Die achte Karte
war das zu viel der Vertraulichkeit?«
»Nein«, sagte Léonie rasch, weil sie nicht unbeholfen oder naiv erscheinen wollte, obwohl all ihre Vorstellungen von romantischer Liebe in Wahrheit einzig und allein aus Büchern stammten. »Keineswegs. Sie … Sie haben mich einfach überrumpelt.«
Isolde wandte sich ihr zu. »Also dann? Gibt es da jemanden?«
Zu ihrem eigenen Erstaunen verspürte Léonie einen Anflug von Bedauern, dass dem nicht so war. Sie hatte geträumt, aber von Romanfiguren oder von Helden, die sie auf der Bühne gesehen hatte, von Liebe und Ehre singend. Doch noch nie hatten sich ihre unausgesprochenen Phantasien auf einen lebenden, atmenden Menschen gerichtet.
»Solche Dinge interessieren mich nicht«, sagte sie mit Nachdruck. »Ehrlich gesagt ist die Ehe in meinen Augen eine Form von Leibeigenschaft.«
Isolde verbarg ein Lächeln. »Das war sie vielleicht mal, aber in der heutigen Zeit? Sie sind jung. Alle jungen Frauen träumen von der Liebe.«
»Ich nicht. Ich habe bei M’man gesehen …«
Sie verstummte in Erinnerung an die Szenen, die Tränen, die Tage, als kein Geld da war, um Essen auf den Tisch zu bringen, die Männer, die sich die Klinke in die Hand gaben.
Isoldes heitere Miene wurde plötzlich ernst. »Marguerite hatte es schwer. Sie hat getan, was sie konnte, damit Sie und Anatole nicht allzu viel entbehren mussten. Sie sollten sie nicht so hart verurteilen.«
Léonie brauste auf. »Ich verurteile sie nicht«, sagte sie schneidend, erbost über den Vorwurf. »Ich … ich wünschte bloß, dass mir so ein Leben erspart bleibt.«
»Liebe – wahre Liebe – ist etwas Kostbares, Léonie«, fuhr Isolde fort. »Sie ist schmerzhaft, beunruhigend, macht uns alle zu Narren, aber sie ist es, die unserem Leben Sinn und Farbe und Bedeutung gibt.« Sie stockte. »Liebe ist das Einzige, das aus unserem alltäglichen Leben etwas Besonderes macht.«
Léonie sah sie kurz an, schaute dann wieder auf ihre Füße.
»Es liegt nicht nur an M’man, dass ich mich von der Liebe abgewandt habe«, sagte sie. »Ich habe miterlebt, wie schlimm Anatole gelitten hat, und ich behaupte, dass das meine Sichtweise beeinflusst hat.«
Isolde drehte sich ihr zu. Léonie spürte die Eindringlichkeit ihrer grauen Augen auf sich und konnte ihrem Blick nicht standhalten. »Er hat einmal eine Frau sehr geliebt«, fuhr sie mit leiser Stimme fort. »Sie ist gestorben. Dieses Jahr im März. Ich weiß nicht genau, woran sie starb, nur dass die Umstände delikat waren.« Sie schluckte schwer, sah ihre Tante an und wandte den Blick gleich wieder ab. »Noch Monate danach fürchteten wir um ihn. Sein Lebensmut war gebrochen, und er war ein nervliches Wrack, so ohne Hoffnung, dass er sich in allerlei üble … üble Ablenkungen flüchtete. Er blieb nächtelang weg und …«
Isolde drückte Léonies Arm an sich. »Die Lebensumstände der Männer vertragen Formen der Entspannung, die uns verderblich erscheinen. Sie sollten derlei Dinge nicht als Hinweis für ein tieferes Unglück deuten.«
»Sie haben ihn nicht erlebt«, entfuhr es ihr mit Inbrunst. »Er war ein Mensch, der sich selbst abhanden gekommen war.«
Und auch mir.
»Ihre Zuneigung zu Ihrem Bruder ehrt Sie, Léonie«, sagte Isolde, »aber vielleicht ist die Zeit gekommen, sich weniger um ihn zu sorgen. Wie schwer es auch für ihn war, inzwischen scheint er wieder guten Mutes zu sein. Meinen Sie nicht auch?«
Sie nickte zögernd. »Ich gebe zu, es geht ihm deutlich besser als im Frühjahr.«
»Na bitte. Sie sollten jetzt mehr an Ihre eigenen Bedürfnisse denken und weniger an die seinen. Sie haben meine Einladung angenommen, weil auch Sie selbst dringend der Ruhe bedürfen. Habe ich recht?«
Léonie nickte.
»Und jetzt, wo Sie hier sind, sollten Sie an sich selbst denken. Anatole ist in guten Händen.«
Léonie dachte an die überstürzte Abreise aus Paris, an ihr Versprechen, ihm zu helfen, an das Gefühl von Bedrohung, das sie immer wieder befiel, an die Narbe über Anatoles Augenbraue, eine Erinnerung an die Gefahr, die ihm drohte, und dann auf einmal war ihr, als würde ihr eine Bürde von den Schultern genommen.
»Er ist in guten Händen«, wiederholte Isolde mit Nachdruck. »Und Sie auch.«
Sie hatten jetzt das gegenüberliegende Ufer des Sees erreicht. Es war friedlich und grün, recht abgeschieden und doch in Sichtweite des Hauses. Nur das Knacken der Zweige unter ihren Schritten war zu hören oder hin und wieder ein Huschen im Unterholz.
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