Die achte Karte
Irgendwo hoch über den Bäumen das Krächzen von Krähen.
Isolde führte Léonie zu einer geschwungenen Steinbank auf einer Anhöhe. Die Bank hatte die Form eines Halbmondes, die Kanten geglättet vom Zahn der Zeit. Isolde setzte sich und klopfte auf den Platz neben sich, damit Léonie sich zu ihr gesellte.
»In der ersten Zeit nach dem Tod meines Mannes bin ich oft hier gewesen«, sagte sie. »Es ist ein so friedlicher Ort.«
Isolde löste ihren weißen, breitkrempigen Hut und legte ihn neben sich. Léonie tat es ihr gleich, zog auch noch ihre Handschuhe aus. Sie warf ihrer Tante einen Blick zu. Ihr goldblondes Haar leuchtete hell, wie sie so dasaß, vollkommen gerade wie immer, die Hände anmutig in den Schoß gelegt, während ihre Schuhe adrett unter dem blassblauen Baumwollkleid hervorlugten.
»War es nicht recht … recht einsam? So allein auf dem Anwesen?«, sagte Léonie.
Isolde nickte. »Wir waren nur wenige Jahre verheiratet. Jules war ein Mann mit festen Gewohnheiten, und, nun ja, die meiste Zeit haben wir uns nicht hier aufgehalten. Zumindest ich nicht.«
»Aber jetzt fühlen Sie sich hier wohl?«
»Ich habe mich dran gewöhnt«, sagte sie leise.
Die Neugier, die ihre Tante von Anfang an bei Léonie ausgelöst hatte, war während der aufregenden Vorbereitungen auf das Diner etwas in den Hintergrund getreten, doch jetzt kehrte sie verstärkt zurück. Unzählige Fragen kamen ihr schlagartig in den Sinn. Vor allem die, warum Isolde, wenn sie sich in der Domaine de la Cade nie recht heimisch gefühlt hatte, dennoch beschlossen hatte hierzubleiben.
»Vermissen Sie Onkel Jules so sehr?«
Über ihnen wiegten sich die Blätter im Wind, flüsternd, murmelnd, lauschend. Isolde seufzte.
»Er war ein fürsorglicher Mensch«, erwiderte sie langsam. »Und ein liebevoller und großherziger Ehemann.«
Léonies Augen verengten sich. »Aber was Sie über die Liebe gesagt haben …«
»Wir können nicht immer den Menschen heiraten, den wir lieben«, fiel Isolde ihr ins Wort. »Umstände, Zufall, Notwendigkeit, all das spielt auch eine Rolle.«
Léonie hakte nach.
»Ich habe mich schon gefragt, wie es dazu kam, dass Sie seine Bekanntschaft machten? Ich hatte den Eindruck, dass mein Onkel die Domaine de la Cade nur selten verlassen hat, daher …«
»Es stimmt, dass Jules nie gern weite Reisen unternommen hat. Hier hatte er alles, was sein Herz begehrte. Er hat viel gelesen und auch die Verwaltung des Anwesens sehr ernst genommen. Dennoch war es seine Gewohnheit, Paris einmal im Jahr einen Besuch abzustatten, wie bereits in der Zeit, als sein Vater noch lebte.«
»Und als er wieder einmal in Paris war, wurden Sie einander vorgestellt?«
»So ist es«, sagte sie.
Léonies Aufmerksamkeit wurde geweckt, nicht durch Isoldes Worte, sondern durch eine bestimmte Bewegung. Ihre Tante hatte wie nebenbei die Hand an den Hals gehoben, der heute trotz des milden Wetters von einem zarten, hohen Spitzenkragen umhüllt war. Léonie wurde klar, wie unbewusst diese Geste war. Und Isolde war ganz blass geworden, als hätte sie sich an etwas Unangenehmes erinnert, das sie lieber vergessen würde.
»Dann vermissen Sie ihn also nicht so sehr?«, fragte Léonie nach.
Isolde antwortete ihr mit einem bedächtigen, rätselhaften Lächeln.
Diesmal stand es für Léonie außer Zweifel. Der Mann, von dem Isolde so sehnsuchtsvoll, so zärtlich gesprochen hatte, war nicht ihr Gatte.
Léonie sah sie verstohlen an, versuchte, den Mut aufzubringen, das Gespräch in Gang zu halten. Sie brannte darauf, mehr zu erfahren, aber sie wollte auch nicht aufdringlich sein. Isolde hatte ihr zwar durchaus persönliche Dinge anvertraut, aber kaum etwas über ihre Ehe gesagt oder über die Zeit, als Onkel Jules ihr den Hof gemacht hatte. Überdies hatte Léonie im Verlauf der Unterhaltung mehrmals das unbestimmte Gefühl gehabt, dass Isolde drauf und dran war, ein anderes Thema anzuschneiden, das zwischen ihnen noch unausgesprochen war, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht denken, worum es sich dabei handeln mochte.
»Sollen wir zurück zum Haus gehen?«, fragte Isolde in Léonies Gedanken hinein. »Anatole wundert sich bestimmt schon, wo wir bleiben.«
Sie erhob sich. Léonie nahm Hut und Handschuhe und stand ebenfalls auf. »Glauben Sie, dass Sie weiterhin hier wohnen werden, Tante Isolde?«, fragte sie, als sie von der Landzunge zurück auf den Pfad traten.
Isolde ließ sich mit der Antwort Zeit. »Wir werden sehen«, sagte sie
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