Die achte Karte
waren.
Eine Holzluke wurde aufgerissen.
Zwei blutunterlaufene Augen weiteten sich zuerst vor Überraschung, dann vor Furcht. Die Luke wurde wieder zugeknallt. Dann, nachdem ein Riegel weggeschoben und ein Schlüssel mühsam im Schloss gedreht worden war, öffnete sich die Tür.
Constant trat ein.
Kapitel 53
∞
Domaine de la Cade
D er stürmische und wechselhafte September wich einem milden und freundlichen Oktober.
Seit ihrer Abreise aus Paris waren erst gut zwei Wochen vergangen, dennoch hatte Léonie bereits Mühe, sich zu erinnern, wie ihre Tage zu Hause abgelaufen waren. Verwundert stellte sie fest, dass sie nichts aus ihrem früheren Leben vermisste. Weder die Parks noch die Straßen noch die Gesellschaft ihrer Mutter oder ihrer Nachbarn.
Isolde und Anatole schienen seit dem Diner wie verwandelt. Isoldes Augen waren nicht mehr sorgenumflort, und obwohl sie schnell müde wurde und häufig morgens in ihrem Zimmer blieb, schien sie von innen heraus zu strahlen. Der große Erfolg des Diners und die aufrichtige Herzlichkeit der Dankesbriefe bezeugten, dass die feine Gesellschaft von Rennes-les-Bains bereit war, Jules Lascombes Witwe in ihrer Mitte aufzunehmen.
Im Verlauf dieser friedlichen Wochen verbrachte Léonie möglichst viel Zeit im Freien. Sie erkundete jeden Winkel des Anwesens, obwohl sie tunlichst den einsamen Pfad mied, der zu der Grabkapelle führte. Die Verbindung von Sonne und frühherbstlichem Regen hatte die Welt in leuchtende Farben getaucht. Kräftige Rottöne, tiefes Immergrün, die goldene Unterseite von Zweigen und Ästen, das Purpur der Blutbuchen und das Dottergelb des späten Ginsters. Vogelgesang, das Bellen eines einsamen Hundes, das aus dem Tal heraufhallte, das Rascheln, wenn ein Kaninchen im Unterholz Schutz suchte, Steinchen und Zweige, die unter Léonies Schritten knirschten und knackten, der anschwellende Zikadenchor, der in den Bäumen vibrierte; die Domaine de la Cade war atemberaubend. Als genügend Zeit vergangen war seit den Schatten, die sie an ihrem ersten Abend wahrgenommen hatte, und der schaurigen Kälte in der Grabkapelle, desto mehr fühlte Léonie sich wie zu Hause. Sie konnte nicht mehr begreifen, dass ihre Mutter als Kind etwas Unheimliches auf dem Anwesen gespürt hatte. So redete Léonie es sich wenigstens ein. Die Domaine de la Cade war ein wunderbar friedlicher Ort.
Sie hatte sich einen angenehmen Tagesablauf angewöhnt. Vormittags malte sie meist ein wenig. Anfänglich hatte sie eine Reihe von Landschaften in Angriff nehmen wollen, ohne großen Anspruch und ganz traditionell, die Veränderungen der herbstlichen Landschaft. Doch nach ihrem unerwarteten Erfolg mit dem Selbstporträt, das sie am Nachmittag vor dem Diner ganz ohne irgendeinen Vorsatz gemalt hatte, machte sie sich aus der verblassenden Erinnerung heraus an die übrigen sieben Tarot-Bilder in der Grabkapelle. Nicht als Geschenk für ihre Mutter, wie ihr zuerst vorgeschwebt hatte, sondern für Anatole, als Andenken an ihren gemeinsamen Aufenthalt hier. Zu Hause in Paris hatte sie der Zauber der Natur, ob auf Bildern in Galerien und Museen oder als Gartenanlagen auf den Boulevards und in den Parks, immer unberührt gelassen. Hier jedoch spürte Léonie, dass sie die Nähe zu den Bäumen und dem Grün und den herrlichen Blick aus ihrem Fenster im tiefsten Inneren genoss. So kam es, dass sie unwillkürlich in jede Darstellung auch die Landschaft der Domaine de la Cade hineinmalte.
Einige Bilder aus der Kapelle kamen ihr müheloser in den Sinn als andere und gingen ihr auch leichter von der Hand. Le Mat nahm die Züge von Anatole an, den Ausdruck in seinem Gesicht, seine Statur, seine Hautfarbe. La Prêtresse erinnerte in ihrer Eleganz, ihrer Anmut an Isolde.
Le Diable ließ sie unversucht.
Nach einem leichten Mittagessen las Léonie meistens in ihrem Zimmer oder machte mit Isolde einen Spaziergang im Garten. Ihre Tante war weiterhin diskret und ausweichend, was die Umstände ihrer Ehe betraf, doch nach und nach gelang es Léonie, ihr genug Einzelheiten zu entlocken, aus denen sie sich ein einigermaßen vollständiges Bild zusammensetzte.
Isolde war in einer Pariser Vorstadt aufgewachsen, in der Obhut einer älteren Verwandten, einer gefühlskalten und verhärmten Frau, für die sie kaum mehr als eine unbezahlte Gesellschafterin war.
Der Tod ihrer Tante war für sie eine Befreiung gewesen, und da sie über ein zwar geringes, aber ausreichendes Auskommen verfügte, suchte sie mit einundzwanzig
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