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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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andere Sitten.
    Der Höhepunkt ihres gemeinsamen Stadtbummels war für Léonie jedenfalls ein reisender Fotograf, der auf dem Place du Pérou bei der Arbeit war. Er hatte das Gesicht unter einem dicken schwarzen Tuch verborgen, und sein neumodischer Kasten saß auf den spindeldürren Holzbeinen eines Stativs mit Metallfüßen. Er kam aus einem Atelier in Toulouse und war mit der Aufgabe betraut, das Leben in den Dörfern und Städtchen des Haute Vallée für die Nachwelt festzuhalten. Er hatte bereits Rennes-le-Château, Couiza und Coustaussa besucht, und nach Rennes-les-Bains wollte er weiter nach Espéraza und Quillan.
    »Sollen wir? Dann hätten wir ein Andenken an die schöne Zeit hier.« Léonie zog an Anatoles Ärmel. »Bitte, ja? Als Geschenk für M’man.«
    Zu ihrer Überraschung schossen ihr Tränen in die Augen. Zum ersten Mal, seit Anatole den Brief zur Post geschickt hatte, löste der Gedanke an ihre Mutter sentimentale Gefühle bei ihr aus.
    Anatole gab nach, vielleicht weil er sah, wie aufgewühlt seine Schwester war. Er setzte sich in die Mitte auf einen alten Metallstuhl mit ungleichen Beinen, der auf dem Pflaster stark wackelte, legte sich seinen Gehstock quer über die Knie und hielt den Hut im Schoß. Isolde stellte sich in ihrer eleganten dunklen Jacke und dem dunklen Rock links hinter ihn, die schlanken Finger in schwarzen Seidenhandschuhen sacht auf seiner Schulter. Léonie, hübsch anzusehen in ihrer rostbraunen Jacke mit Messingknöpfen und Samtbesatz, posierte zu seiner Rechten und lächelte direkt in die Kamera.
    »So«, sagte Léonie, als das Foto im Kasten war. »Jetzt werden wir uns immer an diesen Tag erinnern.«
    Bevor sie Rennes-les-Bains wieder verließen, pilgerte Anatole wie immer zum Postamt, während Léonie, die sich selbst davon überzeugen wollte, dass Audric Baillard auch wirklich verreist war, Isolde dazu überredete, mit ihr zu dessen bescheidenem Haus zu gehen. Sie hatte das Notenblatt mit dem Musikstück aus der Grabkapelle eingesteckt und wollte es ihm zeigen. Sie hatte auch vor, ihm zu erzählen, dass sie angefangen hatte, die Bilder an der Kapellenwand aus dem Gedächtnis nachzumalen.
    Und ihn zu fragen, welche Gerüchte sonst noch um die Domaine de la Cade kreisen.
    Isolde wartete geduldig, während Léonie an die blaue Holztür klopfte, als könnte sie Monsieur Baillard durch reine Willenskraft hervorzaubern. Alle Fensterläden waren geschlossen, und die Blumen in den Kästen draußen auf den Fensterbänken waren zum Schutz gegen den bald einsetzenden Herbstfrost mit Filz abgedeckt. Das Gebäude schien im Winterschlaf zu liegen und vorläufig nicht mit der Rückkehr seines Bewohners zu rechnen.
    Sie klopfte erneut.
    Während sie das verschlossene Haus betrachtete, kam ihr Monsieur Baillards Warnung, nicht noch einmal zur Grabkapelle zu gehen und nach den Karten zu suchen, stärker denn je in den Sinn. Sie vertraute ihm mit ganzem Herzen, und das obwohl sie doch nur einen Abend in seiner Gesellschaft verbracht hatte. Seit dem Diner waren einige Wochen vergangen. Jetzt, da sie stumm vor seiner verschlossenen Tür wartete, wurde ihr klar, wie sehr sie wünschte, er möge wissen, dass sie sich an seine Warnung gehalten hatte.
    Oder doch so gut wie.
    Sie war nicht noch einmal jenen bestimmten Pfad durch den Wald gegangen. Sie hatte nicht weiter nachgeforscht. Sie hatte zwar das Büchlein ihres Onkels nicht zurück in die Bibliothek gebracht, aber sie hatte auch nicht wieder darin gelesen. Nein, sie hatte es seit dem ersten Besuch kaum aufgeschlagen.
    Und sosehr es sie auch enttäuschte, dass Monsieur Baillard wirklich nicht zu Hause war, es bekräftigte sie in ihrer Entschlossenheit, seinen Rat auch weiterhin zu befolgen. Alles andere könnte gefährlich sein, schoss ihr durch den Kopf.
    Léonie wandte sich um und hakte sich bei Isolde unter.
     
    Als sie gut eine halbe Stunde später wieder zu Hause waren, lief Léonie zu der Ecke unter der Treppe und versteckte das Notenblatt in der Klavierbank, unter einer mottenzerfressenen Ausgabe von Bachs
Wohltemperiertem Klavier.
Auf einmal kam es ihr irgendwie bedeutsam vor, dass sie in der ganzen Zeit, seit sie es gefunden hatte, nicht ein einziges Mal versucht hatte, es zu spielen.
    An jenem Abend, als Léonie in ihrem Zimmer die letzte Kerze ausblies, bedauerte sie zum ersten Mal, dass sie das Büchlein ihres Onkels nicht in die Bibliothek zurückgebracht hatte. Sie spürte die Gegenwart von
Les Tarots
in ihrem Zimmer, obwohl

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