Die achte Karte
das häusliche und abgeschiedene Leben, das sie auf der Domaine de la Cade führten, war scheinbar durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Der einzige Schatten am Horizont war, dass ihre Mutter nichts von sich hören ließ. Marguerite schrieb zwar nicht gern, aber so gar keine Nachricht von ihr zu erhalten war verwunderlich. Anatole versuchte, Léonie damit zu beruhigen, dass wahrscheinlich ein Brief verlorengegangen war, als in der Nacht des Unwetters außerhalb von Limoux eine Postkutsche umgestürzt war. Er hatte vom Postmeister erfahren, dass eine ganze Sendung Briefe, Pakete und Telegramme bei dem Unfall in der Sals gelandet und von der Strömung mitgerissen worden war.
Auf Léonies beharrliches Drängen hin erklärte Anatole sich schließlich widerstrebend bereit, nach Hause in die Rue de Berlin zu schreiben. Vielleicht war Du Pont ja gezwungen gewesen, schon früher als geplant nach Paris zurückzukehren, so dass auch Marguerite wieder da war, um den Brief in Empfang zu nehmen.
Als Léonie sah, wie Anatole den Brief versiegelte und ihn dem Jungen übergab, der ihn aufs Postamt in Rennes-les-Bains bringen sollte, wurde sie unversehens von einem bangen Gefühl erfasst. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt, um ihren Bruder daran zu hindern, doch sie riss sich zusammen. Das war doch albern. Anatoles Gläubiger konnten unmöglich noch immer hinter ihm her sein.
Und was konnte so ein harmloser Brief schon Schlimmes anrichten?
Am Ende der zweiten Oktoberwoche, als der Geruch von Herbstfeuern und welkem Laub in der Luft lag, schlug Léonie Isolde vor, Monsieur Baillard einen Besuch abzustatten. Oder, noch besser, ihn in die Domaine de la Cade einzuladen. Zu ihrer Enttäuschung erwiderte Isolde, sie habe gehört, Monsieur Baillard habe sein Häuschen in Rennes-les-Bains verlassen und würde nicht vor Toussaint, Allerheiligen, zurückkehren.
»Wo in aller Welt ist er denn hin?«
Isolde schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand. In die Berge, angeblich, aber sicher weiß das niemand.«
Léonie wollte trotzdem nach Rennes-les-Bains. Isolde und Anatole sträubten sich zwar, kapitulierten aber schließlich, und so vereinbarten sie einen Ausflug für Freitag, den 16 . Oktober.
Sie verbrachten einen angenehmen Vormittag in der Stadt. Sie liefen Charles Denarnaud über den Weg und tranken mit ihm Kaffee auf der Terrasse vor dem Hôtel de la Reine. Trotz seiner Jovialität und Herzlichkeit konnte Léonie sich einfach nicht für ihn erwärmen, und Isoldes kühl reserviertes Verhalten verriet ihr, dass es ihrer Tante ähnlich erging.
»Ich traue ihm nicht«, flüsterte Léonie. »Er hat irgendetwas Falsches an sich.«
Isolde erwiderte nichts, doch die Art, wie sie die Augenbrauen hob, bestätigte, dass sie Léonies Bedenken teilte. Léonie war erleichtert, als Anatole endlich aufstand, um den Kaffeeplausch zu beenden.
»Hätten Sie nicht Lust, mal morgens mit mir auf die Jagd zu gehen, Vernier?«, sagte Denarnaud, während er Anatole die Hand schüttelte. »Um diese Zeit gibt es reichlich Wildschweine. Auch Waldschnepfen und Tauben.«
Anatoles braune Augen strahlten vor Vorfreude. »Mit dem größten Vergnügen, Denarnaud, obschon ich Sie warnen muss, dass meine jagdliche Begeisterung meine Fähigkeiten bei weitem übersteigt. Und peinlicherweise bin ich noch dazu schlecht ausgerüstet. Ich habe nämlich keine Flinte.«
Denarnaud klopfte ihm auf den Rücken. »Ich sorge für Waffen und Munition, wenn Sie das Frühstück spendieren.«
Anatole schmunzelte. »Abgemacht«, sagte er, und trotz ihrer Antipathie gegen Denarnaud wurde Léonie froh ums Herz, als sie den freudigen Ausdruck sah, den die Aussicht auf die Jagd ins Gesicht ihres Bruders gezaubert hatte.
»Meine Damen«, sagte Denarnaud und lüpfte seinen Hut. »Vernier. Nächsten Montag? Ich lasse Ihnen alles, was Sie brauchen, vorher auf die Domaine bringen, falls es Ihnen recht ist, Madame Lascombe.«
Isolde nickte. »Aber natürlich.«
Während sie die Straße entlangflanierten, entging Léonie nicht, dass Isolde eine gewisse Aufmerksamkeit erregte. In den Blicken der Leute lag weder Ablehnung noch Argwohn, aber doch Wachsamkeit. Isolde war dunkel gekleidet und trug den Hutschleier halb heruntergelassen. Es verwunderte Léonie, dass von ihrer Tante noch neun Monate nach dem Tod ihres Mannes erwartet wurde, sich als trauernde Witwe zu kleiden. In Paris war die öffentliche Trauerzeit kürzer. Auch diesbezüglich herrschten hier offenbar
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