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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Anatole war entschlossen, sie für ihren Ungehorsam zu bestrafen, und hatte sich für die härteste Strafe überhaupt entschieden.
    Sobald sich ihr Weinanfall gelegt hatte, ging Léonie zum Schrank, um sich trockene Kleider anzuziehen, stellte aber zu ihrem Erstaunen fest, dass er bis auf ihren Reiseumhang leer war. Sie stürzte durch die Verbindungstür ins Gemeinschaftszimmer der Suite und sah, dass Marieta auch dort fast alles mitgenommen hatte.
    Todunglücklich, die schwere, feuchte Kleidung kratzig und unbehaglich am Körper, packte sie die wenigen persönlichen Sachen, die das Mädchen auf der Frisierkommode liegengelassen hatte, raffte ihren Umhang zusammen und stürmte auf den Flur, wo sie auf Anatole traf. »Marieta hat mir nichts zum Umziehen dagelassen«, klagte sie mit vor Wut blitzenden Augen. »Meine Sachen sind nass, und ich friere.«
    »Gut«, sagte er, verschwand in seinem Zimmer gegenüber und knallte die Tür zu.
    Léonie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zurück in ihr Zimmer.
    Ich hasse ihn.
    Er würde schon sehen, was er davon hatte. Sie war bemüht gewesen, sich anständig und schicklich zu verhalten, aber Anatole zwang sie ja förmlich zu drastischeren Maßnahmen. Sie würde Monsieur Constant eine Nachricht zukommen lassen und ihm erklären, warum sie nicht zu ihrer Verabredung erscheinen konnte. Zumindest würde er dann nicht schlecht von ihr denken. Vielleicht würde er sogar in einem Antwortschreiben seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringen, dass ihre Bekanntschaft ein so vorzeitiges Ende gefunden hatte.
    Léonies Gesicht glühte vor Trotz und Entschlossenheit, als sie zum Sekretär eilte und ein Blatt Briefpapier herausnahm. Rasch, ehe der Mut sie wieder verließ, kritzelte sie ein paar Zeilen des Bedauerns mit dem Hinweis, dass er sie brieflich über das Postamt in Rennes-les-Bains erreichen könne, falls er den Erhalt dieser Nachricht zu ihrer Beruhigung bestätigen wolle. Immerhin ließ sie sich nicht dazu hinreißen, die Adresse der Domaine de la Cade anzugeben.
    Anatole würde toben.
    Léonie war es egal. Geschah ihm ganz recht. Wenn er sie unbedingt wie ein Kind behandeln wollte, dann würde sie sich eben wie ein Kind benehmen. Wenn er nicht zulassen wollte, dass sie eigene Entscheidungen traf, dann würde sie in Zukunft auch keine Rücksicht mehr auf seine Wünsche nehmen.
    Sie versiegelte den Umschlag und adressierte ihn. Nach kurzem Zaudern fischte sie ihren Parfümflakon aus der Handtasche und sprenkelte ein paar Tröpfchen auf den Brief, wie die Heldinnen ihrer Lieblingsromane es getan hätten. Dann hielt sie ihn an die Lippen, als könnte sie ein wenig von sich selbst auf das weiße Papier aufdrücken.
    So. Das war’s.
    Jetzt musste sie nur noch eine Möglichkeit finden, den Brief, ohne dass Anatole es bemerkte, an den
patron
des Hotels zu übergeben, mit der Bitte, ihn morgen Vormittag zur verabredeten Zeit Monsieur Constant auf dem Square Gambetta zu überbringen.
    Dann konnte sie nur abwarten, was passieren würde.
     
    Anatole saß in seinem Zimmer gegenüber, den Kopf in den Händen. In der Faust zerknüllt hielt er einen Brief, der ihm gut eine halbe Stunde vor Léonies Rückkehr per Boten ins Hotel gebracht worden war.
    Ein Brief war zu viel gesagt. Bloß ein paar Worte, die ihm ein Messer in die Seele rammten.
    » CE N’ EST PAS LA FIN .« Es ist noch nicht zu Ende.
    Ohne Unterschrift, ohne Absender, aber Anatole fürchtete, genau zu verstehen, was gemeint war. Es war eine Antwort auf das einzelne Wort, das er auf die letzte Seite seines in Paris zurückgelassenen Tagebuchs geschrieben hatte.
    » FIN .«
    Er hob verzweifelt den Kopf. Seine braunen Augen brannten hell, und seine Wangen waren hohl und weiß vor Schock.
    Irgendwie hatte Constant es herausgefunden. Er wusste, dass die Beerdigung auf dem Cimetière de Montmartre eine Farce gewesen war, und er wusste, dass Isolde lebte, dass sie hier war, mit ihm, im Midi.
    Anatole fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Wie? Wie hatte er erfahren, dass sie in Carcassonne waren? Außer ihm, Léonie, Isolde und den Dienstboten auf der Domaine wusste niemand, dass sie in der Stadt waren, geschweige denn in diesem Hotel.
    Die Anwälte wussten es. Und der Priester.
    Aber nicht, in welchem Hotel sie wohnten.
    Anatole zwang sich zur Konzentration. Er konnte es sich nicht leisten, lange darüber nachzugrübeln, wie sie entdeckt worden waren, wie Constant sie aufgespürt hatte – diese düstere Analyse hatte zu

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