Die achte Karte
ich irgendwo Schutz suche, anstatt nass zu werden. Hat sie dir erzählt, dass wir zur Carriere Mage gegangen sind, um nach euch zu suchen?«
Anatoles Miene verfinsterte sich noch mehr.
»Darüber hat sie mich nicht unterrichtet, nein«, sagte er barsch. »Und hast du uns gesehen?«
»Nein, ich …«
Anatole ging erneut zum Angriff über. »Wie auch immer, der Regen hat vor über einer Stunde aufgehört. Wir hatten vereinbart, uns um halb sechs hier zu treffen. Oder hast du das vergessen?«
»Nein, aber …«
»Es ist unmöglich, in dieser Stadt die Uhrzeit zu vergessen. Wohin man auch geht, irgendwo bimmelt immer eine Glocke. Lüg mich nicht an, Léonie. Behaupte nicht, du hättest nicht gewusst, wie spät es ist, denn das nehme ich dir nicht ab.«
»Das wollte ich auch gar nicht behaupten«, sagte sie mit schwacher Stimme.
»Wo hast du vor dem Regen Schutz gesucht?«, wollte er wissen.
»In einer Kirche«, erwiderte sie rasch.
»Welche Kirche? Wo?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Nicht weit vom Fluss.«
Anatole packte ihren Arm. »Sagst du mir die Wahrheit, Léonie? Hast du den Fluss überquert und bist in die Cité gegangen?«
»Die Kirche war nicht in der Cité«, rief sie wahrheitsgemäß, verzweifelt angesichts der Tränen, die ihr jetzt in den Augen standen. »Bitte, Anatole, du tust mir weh.«
»Und niemand hat dich angesprochen? Niemand wollte dir etwas Böses?«
»Aber das siehst du doch«, sagte sie und versuchte sich seinem Griff zu entwinden.
Er starrte sie an, und in seinen Augen loderte Zorn, wie sie es kaum je bei ihm erlebt hatte. Dann ließ er sie ohne Vorwarnung los, stieß sie beinahe von sich weg.
Léonies kalte Finger stahlen sich zu der Tasche, in die sie Monsieur Constants Visitenkarte gesteckt hatte.
Wenn er die jetzt findet …
Er trat einen Schritt von ihr weg. »Ich bin enttäuscht von dir«, sagte er. Seine Stimme war kalt und bar jeder Zuneigung und ließ Léonie bis ins Mark frösteln. »Ich erwarte stets etwas Besseres von dir, und dann zeigst du so ein Verhalten.«
Wut flammte in ihr auf, und sie war kurz davor, hinauszuschreien, dass sie doch nur ohne Begleitung einen Spaziergang gemacht hatte, was war denn schon dabei, aber sie biss sich auf die Zunge. Sie wollte ihn nicht noch mehr erzürnen.
Léonie ließ den Kopf hängen. »Verzeih mir«, sagte sie.
Er wandte sich ab. »Geh auf dein Zimmer und packe.«
Nein, nicht das.
Ihre Augen fuhren hoch. Sogleich erwachte ihr Kampfgeist erneut.
»Packen? Wieso soll ich packen?«
»Kein Widerspruch, Léonie, tu, was ich dir sage.«
Wenn sie heute Abend abreisten, würde sie Victor Constant nicht morgen auf dem Square Gambetta sehen können. Léonie hatte noch nicht endgültig beschlossen hinzugehen, aber sie wollte sich die Entscheidung nicht aus den Händen nehmen lassen.
Was soll er denken, wenn ich nicht zum Konzert komme?
Léonie eilte zu Anatole und ergriff seinen Arm. »Bitte, ich flehe dich an, ich habe gesagt, es tut mir leid. Bestraf mich von mir aus, aber nicht so. Ich möchte noch in Carcassonne bleiben.«
Er schüttelte sie ab. »Es sind weitere Unwetter mit starken Regenfällen angekündigt. Das hat nichts mit dir zu tun«, sagte er schroff. »Dank deines Ungehorsams war ich gezwungen, Isolde mit Marieta zum Bahnhof vorauszuschicken.«
»Aber das Konzert«, rief Léonie. »Ich will bleiben! Bitte! Du hast es versprochen.«
»Geh – und – packe!«, schrie er.
Noch immer wollte Léonie sich nicht mit der Situation abfinden.
»Was ist denn passiert, dass du so plötzlich abreisen willst?«, fragte sie, und ihre Stimme wurde so laut wie seine. »Hat es etwas mit Isoldes Termin bei den Anwälten zu tun?«
Anatole wich zurück, als hätte sie ihn geschlagen. »Nichts ist passiert.«
Auf einmal hörte er auf zu schreien, und seine Miene wurde weicher. »Es wird andere Konzerte geben«, sagte er, mit sanfterer Stimme. Er wollte einen Arm um sie legen, doch sie schob ihn weg.
»Ich hasse dich!«, schluchzte sie.
Tränen brannten Léonie in den Augen, und es war ihr völlig egal, wer sie sah, als sie die Treppe hinauf und über den Flur in ihr Zimmer lief, wo sie sich bäuchlings aufs Bett warf und in haltloses Schluchzen ausbrach.
Ich reise nicht ab. Ich reise nicht ab.
Aber sie wusste, dass sie machtlos war. Sie hatte nur wenig eigenes Geld. Was auch immer der wahre Grund für die plötzliche Abreise war – die Unwetterwarnungen hielt sie für vorgeschoben –, sie hatte keine Wahl.
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