Die achte Karte
von Einladung aussprechen.
»Mademoiselle Vernier«, sagte er. Léonie hörte ein leichtes Beben in seiner Stimme und mochte ihn dafür umso mehr.
»Ja, Monsieur Constant?«
»Ich hoffe, Sie finden meine Frage nicht zu aufdringlich, aber hatten Sie schon das Vergnügen, den Square Gambetta zu besuchen?«, sagte er und deutete nach rechts. »Höchstens zwei, drei Minuten von hier.«
»Ich war heute Mittag dort«, erwiderte sie.
»Falls Sie gern Musik hören, dort findet jeden Freitagmorgen um elf ein ausgezeichnetes Konzert statt.« Er richtete die ganze Eindringlichkeit seiner blauen Augen auf sie. »Ich werde morgen auf jeden Fall dort sein.«
Léonie verbarg ein Lächeln und bewunderte die Gewandtheit, mit der er sie eingeladen hatte, ohne die Grenzen des gesellschaftlichen Anstands zu übertreten.
»Meine Tante hat für unsere Zeit in Carcassonne den Besuch einiger musikalischer Veranstaltungen geplant«, sagte sie, wobei sie den Kopf zur Seite neigte.
»Wenn das so ist, habe ich vielleicht das Glück, dass sich unsere Wege morgen erneut kreuzen, Mademoiselle«, sagte er und zog den Hut. »Und das Vergnügen, Ihre Tante und Ihren Bruder kennenzulernen.« Er fixierte sie mit seinem Blick, und einen flüchtigen Augenblick lang hatte Léonie das Gefühl, sie wären miteinander verbunden, als würde sie unaufhaltsam zu ihm hingezogen, eingeholt wie ein Fisch an der Angel. Sie holte tief Luft und hatte in diesem Moment keinen sehnlicheren Wunsch, als dass Monsieur Constant ihre Taille umfassen und sie küssen würde.
»
A la prochaine«,
sagte er.
Seine Worte brachen den Zauber. Léonie wurde rot, als könnte er ihre geheimsten Gedanken lesen.
»Ja, gern«, stammelte sie. »Bis zum nächsten Mal.«
Dann wandte sie sich um und ging mit schnellen Schritten die Rue du Pont Vieux hinauf, bevor sie sich noch mehr blamierte und ihre Hoffnungen überdeutlich zu erkennen gab.
Constant sah ihr nach, erkannte an ihrer Haltung, ihrem gezierten Gang, der Art, wie sie den Kopf hoch erhoben hielt, dass sie den Blick seiner Augen im Rücken spürte.
Wie die Mutter, so die Tochter.
Eigentlich war es fast zu einfach gewesen. Die schulmädchenhafte Verlegenheitsröte, die großen staunenden Augen, die Art, wie sie die Lippen öffnete und die rosa Zungenspitze zeigte. Er hätte sie hier und jetzt weglocken können, wenn er gewollt hätte. Aber das war seinen Absichten nicht dienlich. Wesentlich befriedigender war es, mit ihren Gefühlen zu spielen. Er würde sie zugrunde richten, keine Frage, aber indem er sie dazu brachte, sich in ihn zu verlieben. Dieses Wissen würde Vernier noch mehr quälen als die Vorstellung, dass sie mit Gewalt genommen wurde.
Und sie würde sich in ihn verlieben! Sie war beeinflussbar und jung, reif zum Pflücken.
Jämmerlich.
Er schnippte mit den Fingern. Der Mann im blauen Umhang, der ihnen in einiger Entfernung gefolgt war, trat augenblicklich neben ihn.
»Monsieur.«
Constant schrieb eine knappe Mitteilung und gab Anweisung, den Brief ins Hôtel Saint-Vincent zu bringen. Der Gedanke an Verniers Gesicht, wenn er die Worte las, war einfach unwiderstehlich. Er sollte leiden. Beide sollten sie leiden, Vernier und seine Hure. Sie sollten die nächsten Tage damit verbringen, sich ängstlich umzuschauen, wartend, ruhelos, und sich unablässig fragen, wann er zuschlagen würde.
Er drückte dem Mann eine Geldbörse in die schmutzigen Hände.
»Folge ihnen«, sagte er. »Bleib ihnen auf den Fersen. Benachrichtige mich auf dem üblichen Weg, wohin genau sie sich begeben. Ist das klar? Meinst du, du kannst den Brief überbringen, bevor das Mädchen wieder im Hotel ist?«
Der Mann schaute beleidigt. »Das ist meine Stadt«, knurrte er, drehte sich dann auf dem Absatz um und verschwand in einer schmalen Gasse, die entlang der Rückseite des Hôpital des Malades verlief.
Constant schob jeden Gedanken an das Mädchen beiseite und überlegte sich seinen nächsten Schritt. Im Verlauf der ermüdenden Plauderei in der Kirche hatte sie ihm nicht nur den Namen ihres Hotels verraten, sondern auch – und das war noch wichtiger –, wo Vernier und seine Hure sich verkrochen hatten.
Er kannte Rennes-les-Bains und die dortigen therapeutischen Einrichtungen. Der Ort und seine Umgebung waren für seine Pläne bestens geeignet. In Carcassonne konnte er nicht zur Tat schreiten. Die Stadt war zu überlaufen, und eine Konfrontation würde zu viel Aufsehen erregen. Aber ein abgelegenes Anwesen auf dem Lande?
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