Die achte Karte
Er hatte einige Verbindungen zu dem Ort, insbesondere zu einem Mann, dem er einmal einen Gefallen getan hatte und der wenig Skrupel und einen grausamen Charakter besaß. Constant erwartete keine Schwierigkeiten dabei, ihn davon zu überzeugen, dass der Zeitpunkt gekommen war, seine Schuld zu begleichen.
Constant fuhr mit einem
fiacre
ins Herz der Bastide und bahnte sich seinen Weg durch den Wirrwarr von Straßen hinter dem Café des Négociants auf dem Boulevard Barbès. Dort waren die exklusivsten Privatklubs angesiedelt. Champagner, vielleicht ein Mädchen. So weit im Süden war überwiegend dunkles Fleisch zu finden, keine Frauen mit blasser Haut und blondem Haar, wie er sie bevorzugte. Aber heute war er bereit, eine Ausnahme zu machen. Er war in Feierlaune.
Kapitel 61
∞
L éonie hastete über den Square Gambetta, auf dem überall Regenpfützen im Schein der fahlen Sonnenstrahlen glänzten, dann vorbei an einem hässlichen Verwaltungsgebäude und ins Herz der Bastide.
Den Trubel der Welt um sie herum nahm sie kaum wahr. Die Gehwege waren überfüllt, auf den Straßen wirbelte schwarzes Wasser und Unrat umher, herabgeschwemmt vom oberen Teil der Stadt.
Die Folgen ihres Ausflugs wurden ihr erst jetzt voll bewusst. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken daran, wie Anatole sie schelten würde, während sie sich halb gehend, halb laufend ihren Weg durch die durchnässten Straßen suchte, die Nerven zum Zerreißen gespannt.
Obwohl ich nichts bereue.
Sie würde für ihren Ungehorsam bestraft werden, daran zweifelte sie nicht, aber es war keinesfalls so, dass sie wünschte, nicht in die Cité gegangen zu sein.
Sie blickte nach oben auf ein Straßenschild und sah, dass sie in der Rue Courtejaire war, nicht in der Carriere Mage, wie sie vermutet hatte. Sie hatte sich verirrt. Der
plan de ville
war völlig durchweicht und löste sich in ihren Händen auf. Die Druckerschwärze war verlaufen, und die Straßennamen waren jetzt kaum noch zu entziffern. Léonie wandte sich erst nach rechts, dann nach links, auf der Suche nach einer Orientierungshilfe, nach irgendetwas, das sie wiedererkannte, doch sämtliche Läden waren zum Schutz vor dem Unwetter verbarrikadiert, und die schmalen Straßen in der Bastide sahen alle gleich aus.
Sie entschied sich mehrmals für die falsche Richtung, so dass sie erst knapp eine Stunde später die Kirche Saint-Vincent fand und von dort über die Rue du Port zum Hotel gelangte. Als sie die Stufen zum Vordereingang hinaufstürmte, hörte sie die Glocken der Kathedrale sechs schlagen.
Sie stürmte noch im Laufschritt durch die Tür, hoffte, sich wenigstens heimlich auf ihr Zimmer schleichen zu können, um sich etwas Trockenes anzuziehen, bevor sie ihrem Bruder gegenübertreten würde. Aber Anatole war in der Empfangshalle und lief nervös auf und ab, eine Zigarette tief zwischen die Finger geklemmt. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Als er sie sah, stürzte er auf sie zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie heftig.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt?«, rief er. »Ich bin fast verrückt geworden vor Sorge.«
Léonie stand stocksteif da, sprachlos im Angesicht seines Zorns.
»Also?«, drängte er.
»Es – es tut mir furchtbar leid. Das Unwetter hat mich überrascht.«
»Erzähl mir keine Märchen, Léonie«, schrie er sie an. »Ich hatte dir ausdrücklich verboten, allein in die Stadt zu gehen. Du hast Marieta unter irgendeinem absurden Vorwand weggeschickt und bist verschwunden. Wo in Gottes Namen warst du? Zum Teufel mit dir, mach den Mund auf!«
Léonies Augen weiteten sich. Er hatte noch nie so über sie geflucht. Nicht ein einziges Mal. Niemals.
»Dir hätte alles Mögliche passieren können. Ein junges Mädchen allein in einer fremden Stadt. Nicht zu fassen!«
Léonie schaute zu dem
patron
hinüber, der mit unverhülltem Interesse zuhörte.
»Anatole, bitte«, wisperte sie. »Ich kann dir alles erklären. Komm, wir gehen irgendwohin, wo wir ungestört sind. Auf unsere Zimmer. Ich …«
»Hast du die Bastide trotz meines Verbots verlassen?« Er schüttelte sie erneut. »Sag schon! Ja oder nein?«
»Nein«, log sie, aus Angst, die Wahrheit zu sagen. »Ich habe mich auf dem Square Gambetta umgesehen und die wundervolle Architektur in der Bastide bestaunt. Ich gebe zu, ich habe Marieta losgeschickt, einen Schirm zu holen – und das hätte ich nicht tun sollen, ich weiß –, aber als der Regen losging, dachte ich, es wäre dir bestimmt auch lieber, wenn
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