Die achte Karte
warten –, jetzt ging es darum, zu entscheiden, was sie tun sollten.
Seine Schultern sanken herab, als er an Isoldes entsetzte Miene dachte. Er hätte ihr das alles am liebsten erspart, aber sie war nur Augenblicke nach dem Eintreffen des Briefes hereingekommen, und er hatte die Wahrheit nicht vor ihr verbergen können.
Das Glück des Nachmittags war ihnen in den Händen zerronnen. Die Verheißung eines neuen gemeinsamen Lebens, ohne sich verstecken zu müssen und ohne Angst, entglitt ihnen unaufhaltsam.
Er hatte vorgehabt, Léonie die frohe Neuigkeit am Abend zu eröffnen. Er runzelte die Stirn. Nach ihrem empörenden Verhalten heute entschied er sich dagegen. Er hatte gut daran getan, ihr nichts von der Vermählung zu erzählen. Sie hatte bewiesen, dass auf ein ihr angemessenes Verhalten kein Verlass war.
Anatole trat ans Fenster, schob die Holzlamellen der Jalousie ein wenig auseinander und schaute hinaus. Die Straße war menschenleer. Nur ein Betrunkener lehnte eingehüllt in einen alten Soldatenumhang mit hochgezogenen Knien an der Wand gegenüber.
Er ließ die Lamellen wieder zuschnappen.
Er wusste nicht, ob Constant selbst derzeit in Carcassonne war. Oder, falls dem nicht so war, wie nah er ihnen bereits sein könnte. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie am besten so schnell wie möglich nach Rennes-les-Bains zurückkehren sollten.
Er musste sich an die vage Hoffnung klammern, dass Constant, falls er von der Domaine de la Cade wusste, den Brief dorthin geschickt hätte.
Kapitel 62
∞
L éonie stand schweigend in der Lobby, die Hände vor dem Körper gefaltet, und wartete auf Anatole. Ihre Augen blickten trotzig, aber sie war schrecklich nervös, dass der
patron
sie verraten könnte.
Anatole kam die Treppe herunter, ohne das Wort an sie zu richten. Er ging zur Rezeption, sprach kurz mit dem
patron,
schritt dann an Léonie vorbei und hinaus auf die Straße, wo die Droschke wartete, um sie zum Bahnhof zu bringen.
Léonie seufzte erleichtert. »Vielen Dank, Monsieur«, sagte sie leise.
»Je vous en prie,
Mademoiselle Vernier«, sagte er und zwinkerte ihr zu. Er klopfte sich auf die Brusttasche. »Ich lasse den Brief überbringen, wie Sie es wünschen.«
Léonie nickte zum Abschied, eilte dann hinter Anatole die Stufen hinunter.
»Mach schon«, befahl Anatole mit kalter Stimme, als spräche er mit einem säumigen Dienstmädchen. Sie errötete und stieg rasch ein.
Er beugte sich vor und steckte dem Kutscher eine Münze zu. »So schnell es geht.«
Während der ganzen Zeit richtete er kein weiteres Wort mehr an sie, würdigte sie nicht einmal eines Blickes.
In dem dichten Verkehr auf den regennassen Straßen kamen sie nur langsam voran und erwischten den Zug in der allerletzten Minute. Sie hasteten über den rutschigen Bahnsteig zu den Erste-Klasse-Abteilen, wo der Schaffner ihnen die Tür aufhielt und sie hineinscheuchte.
Die Tür knallte zu. Isolde und Marieta saßen in einer Ecke.
»Tante Isolde«, rief Léonie und vergaß bei ihrem Anblick alle Übellaunigkeit. In Isoldes Wangen war kein Hauch Farbe, und ihre grauen Augen waren rot gerändert. Léonie war sicher, dass ihre Tante geweint hatte.
Marieta stand auf. »Ich hielt es für besser, bei Madama zu bleiben«, murmelte sie Anatole zu. »Statt in mein Abteil zu gehen.«
»Das war richtig«, sagte er, ohne die Augen von Isolde zu nehmen. »Ich kläre das mit dem Schaffner.« Er setzte sich neben Isolde auf die Bank und nahm ihre schlaffe Hand.
Auch Léonie kam näher. »Was ist denn nur geschehen?«
»Ich fürchte, ich habe mich erkältet«, lautete die Antwort. »Die Reise und auch das Wetter haben mich erschöpft.« Sie sah Léonie mit ihren grauen Augen an. »Es tut mir so leid, dass Sie meinetwegen das Konzert verpassen. Ich weiß, wie sehr Sie sich drauf gefreut haben.«
»Léonie hat Verständnis dafür, dass Ihre Gesundheit Vorrang hat«, sagte Anatole schneidend, bevor seine Schwester dazu kam, selbst zu antworten. »Und sie sieht auch ein, dass wir nicht Gefahr laufen sollten, so weit von zu Hause festzusitzen, trotz der leichtfertigen Stadtbesichtigung, die sie heute auf eigene Faust unternommen hat.«
Der ungerechte Vorwurf tat ihr weh, doch Léonie schaffte es, ihre Zunge im Zaum zu halten. Was auch immer der wahre Grund für ihre überstürzte Abreise war, Isolde ging es offensichtlich schlecht. Keine Frage, dass sie nach Hause gehörte, wo sie es behaglicher hatte.
Ja, wenn Anatole nur etwas gesagt hätte, dann wäre
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