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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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ohne Erklärung fort. Als Léonie schließlich den Mut aufbrachte, ihn zu fragen, wo er gewesen sei, erwiderte er nur, sie solle sich keine Sorgen machen. Sie vermutete, dass er die Nächte an den
Rouge-et-noir
-Tischen verbrachte. Durch das Geschwätz der Diener hatte sie zudem erfahren, dass in den Kolumnen der Zeitungen schlimme und anonyme Anschuldigungen gegen ihn erhoben wurden.
    Man sah ihm an, dass das alles nicht spurlos an ihm vorüberging. Seine Wangen wurden hohl und die Haut fahl. Seine braunen Augen waren matt, ständig rot gerändert, und seine Lippen dünn und trocken. Léonie hätte alles getan, um einen erneuten Verfall dieser Art zu verhindern.
    Erst als die Bäume auf dem Boulevard Malesherbes erneut ausschlugen und die Wege im Parc Monceau sich wieder mit rosa, weißen und lila Blüten füllten, hörten die Angriffe auf seinen guten Namen schlagartig auf.
    Seine Stimmung besserte sich, und er erholte sich auch gesundheitlich. Sie hatte wieder den älteren Bruder, den sie kannte und liebte. Seitdem hatte es kein unerklärtes Verschwinden mehr gegeben, keine Ausflüchte, keine Halbwahrheiten.
    Bis heute Abend.
    Léonie merkte, dass ihre Wangen nass waren. Sie wischte sich mit kalten Fingern die Tränen ab, zog dann das Tuch noch enger um sich.
    Es ist September, nicht März.
    Aber Léonie blieb todtraurig. Er hatte sie angelogen, das wusste sie. Also hielt sie weiter Wache am Fenster, ließ sich von Achilles Musik in eine Art Halbschlaf lullen und lauschte die ganze Zeit auf das Geräusch von Anatoles Schlüssel in der Tür.

Kapitel 7
    ∞
    Donnerstag, 17 . September
    A natole ließ die Dame schlafen und schlich sich aus dem kleinen gemieteten Zimmer. Um die anderen Pensionsgäste nicht zu wecken, stieg er vorsichtig auf Socken die enge und staubige Holztreppe hinunter. Auf jeder Etage leuchtete ihm eine Gaslampe den Weg, bis er den Hausflur erreichte, der auf die Straße führte.
    Die Morgendämmerung hatte noch nicht richtig begonnen, doch Paris erwachte bereits. In der Ferne konnte Anatole das Geräusch von Lieferkarren hören. Hölzerne Einspänner auf Kopfsteinpflaster, die Milch und frisch gebackenes Brot an die Cafés und Bars im Faubourg Montmartre lieferten.
    Er blieb stehen, um sich die Schuhe anzuziehen, dann ging er los. Die Rue Feydeau war menschenleer, und außer dem Geräusch seiner Absätze auf dem Pflaster war nichts zu hören. Tief in Gedanken versunken, eilte Anatole zur Ecke Rue Saint-Marc, wo er eine Abkürzung durch die Passage des Panoramas nehmen wollte. Er sah niemanden, hörte niemanden.
    In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Würde ihr Plan gelingen? Konnte er Paris unbemerkt verlassen, ohne Verdacht zu erregen? Trotz seiner zuversichtlichen Beteuerungen in den letzten Stunden hatte Anatole Zweifel. Er wusste, dass sein Verhalten in den kommenden Stunden, Tagen über Gelingen oder Scheitern entscheiden würde. Schon jetzt war Léonie argwöhnisch, und da ihre Unterstützung für den Erfolg des Unternehmens unabdingbar war, verfluchte er zuerst den Ablauf der Ereignisse, die seine Ankunft im Opernhaus verzögert hatten, und dann die böse Laune des Schicksals, dass die
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ausgerechnet an diesem Abend ihren bislang blutigsten und gewalttätigsten Aufstand anzetteln mussten.
    Er holte tief Luft, spürte, wie ihm der frische Septembermorgen, durchsetzt mit dem Dampf und Rauch und Ruß der Stadt, in die Lunge drang. Die Vorwürfe, die er sich machte, weil er Léonie allein gelassen hatte, waren in den seligen Augenblicken vergessen gewesen, als er seine Geliebte in den Armen hielt. Jetzt kehrten sie wie ein stechender Schmerz in der Brust zurück.
    Er würde es wiedergutmachen, das nahm er sich fest vor.
    Die Zeit saß ihm im Nacken, drängte ihn nach Hause. Er ging schneller, gedankenverloren, dachte an die Wonnen der vergangenen Nacht, die Erinnerung an seine Geliebte in Geist und Körper eingeprägt, der Duft ihrer Haut an seinen Fingern, die Weichheit ihres Haars. Er hatte die ewige Heimlichtuerei und Verstellung satt. Sobald sie raus aus Paris waren, würde er sich keine Ausreden mehr einfallen lassen müssen, keine imaginären Besuche an den
Rouge-et-noir
-Tischen, in Opiumhöhlen oder Häusern mit zweifelhaftem Ruf erfinden müssen, um seinen wahren Aufenthaltsort zu vertuschen.
    Die Angriffe gegen ihn in der Presse und sein Unvermögen, seinen guten Ruf zu verteidigen, das alles machte ihm arg zu schaffen. Er vermutete, dass Constant dahintersteckte.

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