Die achte Karte
stieß die Fensterläden auf. Das Tageslicht hatte die normale Welt zurückgebracht. Sie wunderte sich, dass das Paris vor ihrem Fenster trotz der Aufregungen des vergangenen Abends gänzlich unverändert aussah. Während sie sich das Haar bürstete, musterte sie sich im Spiegel und suchte ihr Gesicht nach Spuren der Ereignisse ab. Leider entdeckte sie keine.
Als sie zum Frühstück fertig war, zog Léonie ihren schweren blauen Brokatmorgenmantel über das weiße Baumwollnachthemd, band den Gürtel mit einer dicken Doppelschleife fest und trat dann hinaus in die Diele.
Das Aroma von frisch aufgebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase, als sie den Salon betrat und abrupt stehen blieb. Zu ihrer Verwunderung saßen sowohl M’man als auch Anatole bereits am Tisch. Meist pflegte Léonie ihr Frühstück allein einzunehmen.
Selbst zu dieser frühen Stunde war ihre Mutter tadellos zurechtgemacht. Marguerites dunkles Haar war kunstvoll zu ihrem üblichen Chignon gebunden, und sie trug ein wenig Puder auf Wangen und Hals. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster, doch in dem harten Morgenlicht waren schwache Altersfältchen um Augen und Mund erkennbar. Léonie fiel auf, dass sie ein neues Negligé anhatte – rosa Seide mit gelber Schleife –, und seufzte. Vermutlich schon wieder ein Geschenk von diesem aufgeblasenen Du Pont.
Je großzügiger er ist, desto länger müssen wir ihn ertragen.
Bei diesem herzlosen Gedanken packte sie das schlechte Gewissen, und sie ging zum Tisch und küsste ihre Mutter mit recht unüblicher Begeisterung auf die Wange.
»
Bon matin,
M’man«, sagte sie, wandte sich ihrem Bruder zu, um ihn zu begrüßen.
Bei seinem Anblick riss sie die Augen weit auf. Sein linkes Auge war zugeschwollen, eine Hand bandagiert, und am Unterkiefer hatte er einen grünbläulichen Bluterguss.
»Anatole, um Gottes willen, was ist denn …«
Er fiel ihr ins Wort. »Ich habe M’man gerade erzählt, wie wir gestern Abend in den Aufruhr im Palais Garnier geraten sind«, sagte er eindringlich und fixierte sie dabei. »Und dass ich das Pech hatte, ein bisschen Prügel zu beziehen.«
Léonie blickte ihn verblüfft an.
»Der
Figaro
bringt es sogar auf der Titelseite«, sagte Marguerite und klopfte mit ihren gepflegten Fingernägeln auf die Zeitung. »Ich darf gar nicht dran denken, was alles hätte passieren können! Du hättest getötet werden können, Anatole. Gott sei Dank war er da, um auf dich aufzupassen, Léonie. Hier steht, es hat Tote gegeben.«
»Regen Sie sich nicht auf, M’man, ich bin schon vom Arzt untersucht worden«, sagte er. »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
Léonie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder, als sie Anatoles warnenden Blick sah.
»Über hundert Festnahmen«, fuhr Marguerite fort. »Etliche Tote! Und Explosionen! Im Palais Garnier, ich bitte euch. Paris wird allmählich unerträglich. Die Stadt kennt keine Gesetze mehr. Wirklich, ich halte das nicht aus.«
»Es gibt absolut nichts, was Sie aushalten müssten, M’man«, sagte Léonie ungehalten. »Sie waren ja nicht dabei. Mir ist nichts passiert. Und Anatole …« Sie brach ab und bedachte ihn mit einem langen Blick. »Anatole hat schon gesagt, dass es ihm gutgeht. Sie machen sich unnötig Sorgen.«
Marguerite lächelte schwach. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie eine Mutter leidet.«
»Möchte ich auch gar nicht«, murmelte Léonie halblaut, nahm eine Scheibe Graubrot und bestrich sie großzügig mit Butter und Aprikosenkonfitüre.
Eine Weile frühstückten sie schweigend. Léonie warf Anatole wiederholt fragende Blicke zu, die er geflissentlich ignorierte.
Das Dienstmädchen brachte auf einem Tablett die Post herein.
»Was für mich dabei?«, fragte Anatole, mit seinem Buttermesser gestikulierend.
»Nichts,
chéri.
Nein«, antwortete Marguerite.
Mit einem verwunderten Gesichtsausdruck nahm sie einen dicken cremefarbenen Umschlag in die Hand und betrachtete den Poststempel.
Léonie sah, wie ihrer Mutter die Farbe aus den Wangen wich.
»Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet«, sagte sie, stand vom Tisch auf und verließ das Zimmer, ehe eines ihrer Kinder reagieren konnte.
Sobald sie fort war, drehte Léonie sich zu ihrem Bruder um.
»Was um alles in der Welt ist mit dir passiert?«, tuschelte sie. »Sag schnell. Bevor M’man zurückkommt.«
Anatole stellte seine Kaffeetasse hin. »Zu meinem großen Bedauern hatte ich im Chez Frascati eine Meinungsverschiedenheit mit dem
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