Die achte Karte
gehalten hätte. Und auch wenn Marieta schon einmal etwas vergaß, war auf sie in der Regel doch Verlass.
Oder vielleicht war sie schon hier gewesen und wollte nicht länger warten?
Léonie rüttelte am Tor, doch es war verschlossen. Zorn stieg in ihr auf, und dann Enttäuschung, während sie dastand, die Hände in den Hüften, und überlegte, was sie tun sollte.
Sie hatte keine Lust, um das ganze Anwesen herum zum Haupttor zu gehen. Der Vormittag in der Stadt und der anstrengende Fußmarsch den Berg hinauf hatten sie erschöpft.
Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, aufs Grundstück zu gelangen.
Léonie konnte sich nicht vorstellen, dass die wenigen Bediensteten, die Isolde für die Außenanlagen hatte, ein so großes Anwesen stets in makellosem Zustand halten konnten. Sie war schlank. Wenn sie nur gründlich genug suchte, würde sie bestimmt eine Öffnung im Zaun entdecken, durch die sie hindurchschlüpfen konnte. Und wenn sie erst auf dem Gelände war, musste sie nur noch einen Pfad finden, der ihr vertraut war.
Sie schaute nach links und rechts, suchte nach einem Anhaltspunkt, welche Richtung die erfolgversprechendste war. Schließlich dachte sie sich, dass die am weitesten vom Haus entfernt liegenden Bereiche des Anwesens wohl am ehesten vernachlässigt wurden. Sie wandte sich nach Osten. Schlimmstenfalls würde sie einfach der Umzäunung bis zum Haupttor folgen.
Sie ging mit forschen Schritten los, spähte immer wieder durch die Hecke, bog Gestrüpp beiseite und mied die tückischen Ranken der Brombeersträucher, hielt Ausschau nach einem Loch im Gitterzaun. Der Abschnitt in der Nähe des Tors war sicher, doch wie sie noch von ihrer Ankunft auf der Domaine de la Cade in Erinnerung hatte, nahm die Atmosphäre von Verfall und Vernachlässigung zu, je weiter sie ging.
Schon nach gut fünf Minuten entdeckte sie eine Lücke im Zaun. Sie nahm den Hut ab, bückte sich, atmete tief durch und schob sich mit einem Gefühl der Erleichterung durch die schmale Öffnung. Als sie hindurch war, zupfte sie Dornen und Blättchen von ihrer Jacke, wischte den Schmutz vom Saum ihrer Röcke und machte sich dann frischen Mutes wieder auf den Weg, zuversichtlich, dass es nicht mehr weit bis zum Haus sein konnte.
Das Gelände war hier unwegsamer, das Blätterdach dunkler und beklemmender. Es dauerte nicht lange, bis Léonie erkannte, dass sie sich auf der anderen Seite des Buchenwaldes befand und dass ihr Weg sie, wenn sie nicht aufpasste, an der Grabkapelle vorbeiführen würde. Sie zog die Stirn kraus. Gab es eine andere Möglichkeit?
Sie sah einen Wirrwarr von kleinen Trampelpfaden, keinen deutlich ausgetretenen Weg. Alle Lichtungen und Wäldchen sahen irgendwie gleich aus. Léonie konnte sich nur an der Sonne orientieren, die hoch über dem Blätterbaldachin schien, jedoch hier unten tief im Schatten nur unzuverlässige Hilfe bot. Aber, so sagte sie sich, wenn sie einfach immer geradeaus ging, würde sie schon bald auf die Rasenflächen und zum Haus gelangen. Sie musste einfach darauf hoffen, nicht auf die Grabkapelle zu treffen.
Sie ging quer am Hang entlang, auf einem undeutlichen Pfad, der zu einer kleinen Lichtung führte. Plötzlich sah sie durch eine Lücke in den Bäumen das Waldstück auf dem gegenüberliegenden Ufer der Aude, in dem die Gruppe von steinernen Megalithen stand, die Pascal ihr einmal gezeigt hatte. Und dann erkannte sie mit einem kleinen Schreck, dass sämtliche Orte mit diabolischen Namen von hier aus, in der Nähe der Domaine de la Cade, zu sehen waren: der Teufelssessel, der Étang du Diable und der Gehörnte Berg. Sie suchte den Horizont ab. Da war er. Der Punkt, an dem die Flüsse Blanque und Sals zusammenflossen, ein Ort, den die Einheimischen
le bénitier
nannten, Weihwasserbecken.
Léonie zwang sich, die sich aufdrängende Erinnerung an den verdrehten Körper des Dämons und seine bösartigen blauen Augen zu unterdrücken. Sie eilte mit großen Schritten weiter, über den unebenen Boden, redete sich ein, wie lächerlich es war, sich von einer Statue aus der Fassung bringen zu lassen, von einem Bild in einem Buch.
Der Hang stieg jetzt steil an. Die Beschaffenheit des Bodens unter ihren Schuhen veränderte sich, und bald darauf ging sie nicht mehr über Farnkraut und Kiefernzapfen, sondern über nackte Erde, die von Büschen und Bäumen gesäumt wurde, aber selbst kahl war. Es war, als hätte man einen braunen Papierstreifen im rechten Winkel aus der grünen Landschaft
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