Die achte Karte
hatte, gerade wieder eingefallen, doch er war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
»Nein. Oder ja, es ist ein Brief, aber es ist einer, den ich selbst geschrieben habe. An dich.«
In ihrer Brust keimte die leise Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde. »An mich?«
Anatole strich sich mit der Hand über das Haar und seufzte. »Ich befinde mich in einer misslichen Lage«, sagte er leise. »Es gibt da … Dinge, über die wir reden müssen, aber jetzt, wo der Moment gekommen ist, stelle ich fest, dass ich in deiner Gegenwart kleinlaut bin und nicht die passenden Worte finde.«
Léonie lachte. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte sie. »Du hast doch wohl keinen Grund, dich mir gegenüber zu schämen, oder?«
Sie hatte das im Scherz gesagt, doch Anatoles düstere Miene ließ ihr Lächeln gefrieren. Sie sprang vom Stuhl auf und lief zu ihm.
»Was hast du denn nur?«, wollte sie wissen. »Geht es um M’man? Oder Isolde?«
Anatole blickte nach unten auf den Brief in seinen Händen. »Ich habe mir die Freiheit erlaubt, das Geständnis zu Papier zu bringen«, sagte er.
»Geständnis?«
»Aus dem Brief wirst du Dinge erfahren, die ich … die
wir
dir schon längst hätten mitteilen sollen. Isolde hätte das auch, doch ich wollte noch warten.«
»Anatole!«, rief sie und schüttelte seinen Arm. »Raus mit der Sprache.«
»Es ist besser, du liest ihn ungestört«, sagte er. »Es hat sich eine neue, noch weit ernstere Situation ergeben, die meine sofortige Aufmerksamkeit verlangt. Und deine Hilfe.«
Er zog seinen Arm aus Léonies kleiner Hand und hielt ihr den Brief hin.
»Ich hoffe, du kannst mir verzeihen«, sagte er mit brechender Stimme. »Ich werde draußen warten.«
Dann schritt er ohne ein weiteres Wort zur Tür, riss sie auf und war fort.
Die Tür fiel scheppernd zu. Dann kehrte schlagartig Stille ein.
Völlig verwirrt von dem, was gerade geschehen war, und bekümmert über Anatoles offensichtliche Seelenpein, starrte Léonie auf den Umschlag. Ihr Name stand darauf, mit schwarzer Tinte in Anatoles eleganter, schnörkeliger Schrift.
Sie zögerte noch einen Moment aus Angst vor dem Inhalt, dann riss sie ihn auf.
Ma chère petite Léonie –
Schon immer hast Du mir vorgeworfen, ich würde Dich wie ein Kind behandeln. Selbst als Du noch Schleifen im Haar trugst und kurze Röcke und ich mich mit meinem Unterricht herumschlug. Diesmal jedoch ist der Vorwurf gerechtfertigt. Denn morgen Abend bei Sonnenuntergang werde ich auf einer Lichtung im Buchenwald dem Mann entgegentreten, der nichts unversucht gelassen hat, um uns zugrunde zu richten.
Falls es nicht zu meinen Gunsten ausgeht, möchte ich Dich nicht ohne die Antworten auf all die Fragen zurücklassen, die Du mir gewiss stellen würdest. Ganz gleich, wie das Duell ausgeht, ich möchte, dass Du die ganze Wahrheit erfährst.
Ich liebe Isolde aus ganzem Herzen.
Sie war es, an deren Grab Du im März standest. Dabei handelte es sich um ihren – unseren – verzweifelten Versuch, den gewalttätigen Absichten eines Mannes zu entkommen, mit dem sie eine kurze, unbedachte Liaison hatte. Ihren Tod und ihre Beerdigung vorzutäuschen erschien uns die einzige Möglichkeit, um sie von dem Schatten zu befreien, der auf ihr lastete.
Léonie streckte den Arm aus und tastete nach der Rückenlehne des Stuhls. Vorsichtig setzte sie sich.
Zugegeben, ich hatte erwartet, dass Du unsere Täuschung durchschaust. Während jener schwierigen Monate im Frühjahr und Frühsommer, als die Attacken der Zeitungen gegen mich noch anhielten, rechnete ich jeden Moment damit, Du würdest mir die Maske herunterreißen und mich bloßstellen, doch ich spielte meine Rolle zu gut. Du, die Du so lauteren Herzens und Sinnes bist, wieso hättest Du argwöhnen sollen, dass mein verkniffener Mund und meine verhärmten Augen nicht die Folgen eines ausschweifenden Lebenswandels, sondern des Kummers waren?
Isolde wollte Dich niemals täuschen, das sollst Du wissen. Von dem Moment an, als wir auf der Domaine de la Cade eintrafen und sie Dich kennenlernte, war sie voller Vertrauen, dass Deine Liebe zu mir – eine Liebe, die, so ihre Hoffnung, sich im Laufe der Zeit auch auf sie ausdehnen würde, wie bei einer Schwester – Dir die Kraft geben würde, moralische Bedenken beiseitezuschieben und uns bei unserer Täuschung zu unterstützen. Ich war anderer Ansicht.
Ich war ein Narr.
Während ich hier sitze und dies schreibe, am Vortag meines
Weitere Kostenlose Bücher