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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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möglicherweise letzten Tages auf dieser Erde, gestehe ich, dass mein größter Fehler moralische Feigheit war. Ein Fehler von vielen.
    Aber diese letzten Wochen mit Dir und Isolde in der friedlichen Umgebung der Domaine de la Cade waren wunderbar.
    Da ist noch etwas. Eine letzte Täuschung, für die Du, so bete ich, in Deinem Herzen, wenn auch keine Vergebung, so doch Verständnis finden mögest. Während Du in Carcassonne arglos die Straßen erkundetest, haben Isolde und ich geheiratet. Sie ist jetzt Madame Vernier, Deine Schwester, Dir durch Recht und Gesetz ebenso verbunden wie durch Zuneigung.
    Außerdem werde ich Vater.
    Doch noch am Tag unseres größten Glücks erfuhren wir, dass er uns gefunden hatte. Das ist der wahre Grund für unsere überstürzte Abreise. Und es ist auch die Erklärung für Isoldes Zusammenbruch und ihre Zerbrechlichkeit. Ihre Gesundheit würde keine weitere Nervenbelastung verkraften, so viel steht fest. Die Angelegenheit muss ein Ende haben.
    Nachdem er herausgefunden hat, dass die Beerdigung vorgetäuscht war, hat er uns irgendwie zuerst in Carcassonne und nun auch in Rennes-les-Bains aufgespürt. Deshalb habe ich seine Herausforderung angenommen. Es ist die einzige Möglichkeit, die Sache endgültig zu beenden.
    Morgen Abend werde ich mich ihm stellen. Ich bitte um Deine Unterstützung, petite, wie ich das schon vor vielen Monaten hätte tun sollen. Ich bedarf dringend Deiner Hilfe, damit meine geliebte Isolde nichts von dem Duell erfährt. Sollte ich nicht zurückkehren, so empfehle ich Dir die Sicherheit meiner Frau und meines Kindes an. Der Besitz des Hauses ist gesichert.
    Dein Dich zärtlich liebender Bruder
    A–
    Léonies Hände fielen ihr in den Schoß. Die ersten Tränen, die sie mühsam zurückgehalten hatte, rannen lautlos über ihre Wangen. Sie weinte vor Trauer, sie weinte wegen der Täuschungen und Missverständnisse, die sie entzweit hatten. Sie weinte – um Isolde, weil sie und Anatole sie hintergangen hatten, weil auch sie, Léonie, die beiden hintergangen hatte –, bis all ihre Gefühle aufgebraucht waren.
    Dann setzte ihr Denken wieder ein. Mit einem Mal begriff sie, warum Anatole heute Morgen so ungewöhnlich früh das Haus verlassen hatte.
    Schon bald könnte er tot sein.
    Sie stürzte zum Fenster und riss es weit auf. Nach dem strahlenden Morgen war der Himmel nun bewölkt. Unter den wirkungslosen Strahlen einer schwachen Sonne war alles still und kühl. Herbstnebel trieb über Rasen und Gärten, hüllte die Welt in trügerische Ruhe.
    Morgen bei Sonnenuntergang.
    Sie starrte ihr Spiegelbild in dem hohen Fenster der Bibliothek an und dachte, wie unwirklich es doch war, dass sie noch immer dieselbe zu sein schien und doch so völlig verändert war. Augen, Nase, Kinn, Mund, alles noch genau so wie noch wenige Minuten zuvor.
    Léonie fröstelte. Morgen war der Vorabend von Allerheiligen, Toussaint. Eine Nacht von erschreckender Schönheit, in der der Schleier zwischen Gut und Böse besonders dünn war. Es war eine Zeit, in der sich solche Geschehnisse ereignen konnten. Ja, eine Zeit für Dämonen und böse Taten.
    Das Duell durfte nicht stattfinden. Es lag an ihr, es zu verhindern. Einer so grauenhaften Farce musste Einhalt geboten werden. Doch noch während ihr diese Gedanken durch den Kopf jagten, wusste Léonie, wie sinnlos sie waren. Sie würde Anatole nicht von seinem Vorsatz abbringen können.
    »Er darf sein Ziel nicht verfehlen«, murmelte sie atemlos. Jetzt war sie bereit, ihn zu sehen, und sie ging zur Tür und zog sie auf.
    Ihr Bruder stand draußen in einer Wolke von Zigarettenqualm, das Gesicht gezeichnet von der Qual des Wartens, während sie seinen Brief gelesen hatte.
    »Ach, Anatole«, sagte sie und schlang die Arme um ihn.
    Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Verzeih mir«, flüsterte er und ließ sich von ihr festhalten. »Es tut mir so furchtbar leid. Kannst du mir verzeihen,
petite?
«

Kapitel 79
    ∞
    L éonie und Anatole wichen einander fast den ganzen restlichen Tag nicht mehr von der Seite. Isolde hatte sich am Nachmittag etwas hingelegt, wodurch sie Zeit hatten, in Ruhe miteinander zu reden. Da Anatole von schlimmen Vorahnungen und dem verzweifelten Gefühl, es hätte sich alles gegen ihn verschworen, arg niedergedrückt wurde, kam Léonie sich fast vor wie eine große Schwester.
    Sie schwankte hin und her zwischen dem Zorn darüber, so hintergangen worden zu sein, noch dazu über so viele Monate hinweg, und dem Verständnis für

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