Die achte Karte
stellte die Flaschen abermals in einer Reihe auf, kehrte dann zu Anatole zurück und lud die Pistole für ihn.
Von den sechs Schüssen hatten zwei ihr Ziel weit verfehlt, einer hatte den Stamm einer Buche getroffen und zwei das Holzgestell, so dass drei Flaschen durch die Erschütterung runtergefallen waren. Nur eine Kugel war ein Treffer gewesen, auch wenn sie nur ganz knapp den Boden der dicken Glasflasche gestreift hatte.
»Versuchen Sie’s noch mal, Sénher«, sagte Pascal ruhig. »Halten Sie die Augen ganz ruhig.«
»Mach ich ja«, knurrte Anatole wütend.
»Heben Sie den Blick zum Ziel und senken Sie ihn dann wieder. Stellen Sie sich die Kugel vor, wie sie durch den Lauf fliegt.« Pascal trat beiseite. »Ruhig, Sénher. Zielen Sie. Nicht zu hastig.«
Anatole hob den Arm. Diesmal stellte er sich vor, dass er statt der Flasche, die einmal Bier enthalten hatte, Victor Constants Gesicht vor sich sah.
»Jetzt«, sagte Pascal leise. »Ganz ruhig, ganz ruhig. Feuer.«
Anatole traf sie genau in der Mitte. Die Flasche zerplatzte, versprühte einen Schauer aus Glassplittern wie ein billiger Feuerwerkskörper. Der Knall hallte von den Baumstämmen wider, und verschreckte Vögel flatterten aus ihren Nestern auf.
Ein Rauchwölkchen stieg aus dem Pistolenlauf. Anatole pustete über die Mündung und wandte sich dann mit einem zufriedenen Glimmen in den Augen Pascal zu.
»Guter Schuss«, sagte der Diener, dessen breites, teilnahmsloses Gesicht endlich einmal seine Gefühle widerspiegelte. »Und … wann ist die Konfrontation?«
Das Lächeln auf Anatoles Gesicht erstarb. »Morgen bei Sonnenuntergang.«
Zweige knackten unter Pascals Schritten, als er über die Lichtung ging und die verbliebenen Flaschen erneut aufstellte. »Sollen wir sehen, ob Sie ein zweites Mal treffen, Sénher?«
»Gebe Gott, dass ich es nur einmal muss«, sagte Anatole halblaut zu sich selbst.
Doch er erlaubte Pascal, die Pistole so lange neu zu laden, bis auch die letzte Flasche getroffen war und der Geruch von Schießpulver und schalem Bier in der Luft über der Waldlichtung hing.
Kapitel 78
∞
U m fünf Minuten vor zwölf verließ Léonie ihr Zimmer, ging den Flur entlang und die Haupttreppe hinunter. Sie wirkte gefasst und beherrscht, doch ihr Herz schlug wie die Blechtrommel eines Zinnsoldaten.
Als sie die Halle durchquerte, kam es ihr so vor, als klängen ihre Absätze bedrohlich laut durch das stille Haus. Sie schaute nach unten auf ihre Hände und sah, dass sie grüne und schwarze Farbspritzer auf den Fingernägeln hatte. Im Verlauf des bangen Morgens hatte sie das Bild von La Tour entworfen, doch sie war nicht zufrieden damit. So zart sie auch die Blätter an den Bäumen getüpfelt oder den Himmel koloriert hatte, irgendetwas Beunruhigendes und Düsteres kam mit jedem Pinselstrich zum Vorschein.
Sie ging an den Glasvitrinen vorbei auf die Bibliothekstür zu, ohne die Medaillen, Kuriositäten und Erinnerungsstücke richtig zur Kenntnis zu nehmen, so sehr war sie in Gedanken bei dem bevorstehenden Gespräch.
Auf der Schwelle zögerte sie. Dann reckte sie das Kinn in die Höhe, hob die Hand und klopfte resoluter an die Tür, als ihr zumute war.
»Herein.«
Beim Klang von Anatoles Stimme öffnete Léonie die Tür und trat ein.
»Du wolltest mich sprechen?«, sagte sie und fühlte sich, als wäre sie vor eine Richterbank gerufen worden und nicht zu ihrem geliebten Bruder.
»Ja«, sagte er und lächelte ihr zu. Der Ausdruck in seinem Gesicht und der Blick in seinen braunen Augen erleichterten sie, doch sie merkte, dass auch er nervös war. »Komm, Léonie. Setz dich.«
»Du machst mir Angst, Anatole«, sagte sie leise. »Du wirkst so ernst.«
Er legte eine Hand auf ihre Schulter und dirigierte sie zu einem Stuhl mit Gobelinpolster. »Es geht um eine ernsthafte Angelegenheit, über die ich mit dir reden möchte.«
Er rückte den Stuhl für sie zurecht, ging ein Stück weg und wandte sich, die Hände auf dem Rücken, zu ihr um. Léonie bemerkte, dass er etwas zwischen den Fingern hielt. Einen Umschlag.
»Was hast du da?«, fragte sie und zuckte innerlich bei dem Gedanken zusammen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden könnten. Was, wenn Monsieur Constant tatsächlich durch irgendwelche geschickten Bemühungen ihre Adresse herausgefunden und direkt an sie geschrieben hatte? »Ist das ein Brief von M’man? Aus Paris?«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über Anatoles Gesicht, als wäre ihm etwas, das er vergessen
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