Die achte Karte
gebrochenes Herz noch wichtiger war, sie half ihr, Anatole nahezubleiben. Achille schilderte ihr das turbulente Leben auf den Straßen und Boulevards, die sie und Anatole einmal ihr Zuhause genannt hatten, erzählte den neuesten Klatsch und Tratsch, wer mit wem zerstritten war, berichtete von den kleinlichen Rivalitäten an der Académie, von gefragten oder in Ungnade gefallenen Schriftstellern, von streitsüchtigen Künstlern und erfolglosen Komponisten, von Skandalen und Affären.
Léonie interessierte sich nicht für diese Welt, die ihr jetzt so fern, so verschlossen war, aber die Briefe weckten Erinnerungen an Gespräche mit Anatole. Früher war er manchmal, wenn er nach einem Abend mit Achille im Le Chat Noir heimgekehrt war, noch spät in ihr Zimmer gekommen und hatte sich in den alten Sessel am Fuße ihres Bettes fallen lassen, während sie, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, seinen Geschichten gelauscht hatte. Debussy schrieb viel über sich selbst, füllte Seite um Seite mit seiner krakeligen Schrift. Léonie störte das nicht. Es lenkte sie von ihren eigenen Sorgen ab. Sie lächelte, wenn er erzählte, dass er mit seinen atheistischen Freunden am Sonntagmorgen in der Kirche Saint-Gervais gewesen war, um sich die gregorianischen Gesänge anzuhören, und sie sich trotzig mit dem Rücken zum Altar gesetzt hatten, was nicht nur eine Beleidigung für die versammelte Gemeinde war, sondern auch für den Geistlichen, der die Messe las.
Léonie konnte Isolde nicht allein lassen, und selbst wenn sie die Freiheit zu reisen gehabt hätte, wäre der Gedanke, nach Paris zurückzukehren, zu schmerzlich gewesen. Auf ihre Bitte hin suchten Achille und Gaby Dupont regelmäßig den Cimetière de Passy im 16 . Arrondissement auf, um Blumen auf das Grab von Marguerite Vernier zu legen. Die Grabstätte, für die Georges Du Pont in einer letzten großherzigen Geste bezahlt hatte, lag nicht weit von der des Malers Edouard Manet, wie Achille schrieb. Ein friedvoller, schattiger Ort. Léonie dachte, ihre Mutter wäre froh, in solcher Gesellschaft zu liegen.
Das Wetter schlug um, als der April kam, einmarschierte wie ein General auf dem Schlachtfeld. Aggressiv, laut, streitsüchtig. Stürmische Scharen von Wolken jagten über die Berggipfel dahin. Die Tage wurden allmählich länger, begannen morgens ein wenig heller. Marieta holte ihr Nähzeug hervor. Sie nähte große Falten in Isoldes
chemises
und ließ die Abnäher aus den Röcken, um sie an ihre veränderte Figur anzupassen.
Lila, weiße und rosa Wildblumen schoben zaghafte Triebe durch die verkrustete Erde, reckten die Gesichter ins Licht. Die vereinzelten Farbtupfen, wie von einem Malerpinsel heruntergetropft, wurden kräftiger und zahlreicher und leuchteten im Grün der Rabatten und Pfade.
Der Mai kam vorsichtig auf Zehenspitzen, ließ die Verheißung langer Sommertage und von Sonnenlicht gesprenkelter stiller Wasser erahnen. Léonie begab sich öfter nach Rennes-les-Bains, wo sie durch die Straßen schlenderte, Monsieur Baillard besuchte oder nachmittags mit Madame Bousquet im Salon des Hôtel de la Reine Tee trank. Vor den bescheidenen Stadthäusern sangen die Kanarienvögel in Käfigen, die nun nach draußen gehängt worden waren. Die Zitronen- und Orangenbäume blühten, erfüllten die Luft mit ihrem aromatischen Duft. Frisches Obst wurde über die Berge aus Spanien gebracht und an jeder Straßenecke auf Holzkarren feilgeboten.
Plötzlich lag die Domaine de la Cade wieder in voller Pracht unter einem endlosen blauen Himmel. Die leuchtende Junisonne beschien die schimmernden weißen Gipfel der Pyrenäen. Endlich war der Sommer gekommen.
Aus Paris schrieb Achille, dass Maître Maeterlinck die Erlaubnis erteilt hatte, sein neues Schauspiel,
Pelléas et Mélisande,
zu vertonen. Außerdem schickte er ihr ein Exemplar von Zolas
La Débâcle,
das vor dem Hintergrund des Krieges zwischen Frankreich und Preußen im Sommer 1870 spielte. Er fügte ein paar persönliche Zeilen bei, in denen es hieß, dass Anatole sich gewiss ebenso dafür interessiert hätte wie er, da sie beide Söhne verurteilter Kommunarden waren. Léonie tat sich schwer mit dem Roman, war aber dankbar für die Empfindung, die Achille veranlasst hatte, ihr ein so aufmerksames Geschenk zu machen.
Sie erlaubte es ihren Gedanken nicht, zu den Tarotkarten zurückzukehren. Sie waren zu eng mit den grässlichen Ereignissen des Abends vor Allerheiligen verbunden, und auch wenn sie Abbé Saunière nicht dazu
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