Die achte Karte
bringen konnte, ihr von den Dingen zu erzählen, die er im Dienst ihres Onkels gesehen oder getan hatte, so wollte ihr doch Monsieur Baillards Warnung nicht aus dem Kopf, dass der Dämon Asmodeus in unruhigen Zeiten die Täler durchstreifte. Sie war zwar selbst kein abergläubischer Mensch, so redete sie sich zumindest ein, aber sie wollte auch kein Wiederaufleben solcher Schrecken riskieren.
Sie packte ihre unvollständige Reihe von Zeichnungen beiseite. Sie waren eine zu schmerzliche Erinnerung an ihren Bruder und ihre Mutter. Le Diable und La Tour blieben unvollendet. Und Léonie kehrte auch nicht auf die von wilden Wacholderbüschen umringte Lichtung zurück. Sie lag so nah an der Stelle, wo das Duell stattgefunden hatte, wo Anatole gestorben war, dass es ihr das Herz brechen würde, auch nur in Erwägung zu ziehen, wieder dorthin zu gehen.
Isoldes Wehen setzten früh am Morgen des 24 . Juni ein. Es war ein Freitag und der Festtag des heiligen Johannes des Täufers.
Monsieur Baillard ließ über sein geheimes Netzwerk von Freunden und Kameraden eine
sage-femme
aus seinem Heimatdorf Los Seres kommen, die rechtzeitig zur Geburt eintraf.
Gegen Mittag stand Isolde kurz vor der Niederkunft. Léonie kühlte ihr die Stirn mit feuchten Lappen und öffnete die Fenster, um frische Luft und den Duft von Wacholder und Geißblatt aus dem Garten in den Raum zu lassen. Marieta betupfte ihr die Lippen mit einem Schwamm, der mit süßem Weißwein und Honig getränkt war.
Am späten Nachmittag war Isolde ohne Komplikationen von einem Jungen entbunden worden, der nicht nur kerngesund, sondern auch mit einem überaus lautstarken Organ ausgestattet war.
Léonie hoffte, dass die Geburt Isoldes vollständige Genesung bewirken würde. Dass sie bald weniger apathisch, weniger hinfällig, weniger losgelöst von der Welt um sie herum sein würde. Mit der Liebe zu dem Kind, Anatoles Kind, so erwartete Léonie – ja, alle im Haushalt –, würde Isolde wieder einen Sinn im Leben sehen.
Doch etwa drei Tage nach der Geburt legte sich ein schwarzer Schatten über Isolde. Sie erkundigte sich nach der Gesundheit und dem Wohlergehen ihres Sohnes, hatte aber größte Mühe, nicht wieder in den unerreichbaren Starrezustand zu fallen, der sie unmittelbar nach Anatoles Ermordung überkommen hatte. Ihr kleiner Sohn, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, erinnerte sie nur daran, was sie verloren hatte, anstatt ihr einen Grund zum Weiterleben zu geben.
Die Dienste einer Amme wurden benötigt.
Der Sommer schritt voran, ohne dass sich Isoldes Zustand besserte. Sie war freundlich, erfüllte ihre Pflicht gegenüber ihrem Sohn, wenn sie darum gebeten wurde, lebte aber ansonsten in ihrer eigenen Welt, unaufhörlich gepeinigt von den Stimmen in ihrem Kopf.
Während Isolde distanziert war, schloss Léonie ihren Neffen vorbehaltlos ins Herz. Louis-Anatole hatte ein sonniges Gemüt, Anatoles schwarzes Haar und lange Wimpern, die die von seiner Mutter geerbten verblüffend grauen Augen umrahmten. In der Freude über die Gesellschaft des Kindes vergaß Léonie mitunter für mehrere Stunden die Tragödie, die über sie alle gekommen war.
In den unerträglich heißen Wochen im Juli und August erwachte Léonie manchmal morgens mit einem Gefühl der Hoffnung und spürte nach dem Aufstehen eine Leichtigkeit in ihren Schritten, bis die Erinnerung zurückkehrte und sich der Schatten wieder über sie senkte. Aber ihre Liebe und die Entschlossenheit, Anatoles Sohn vor jedwedem Schaden zu bewahren, halfen ihr, wieder Mut zu fassen.
Kapitel 89
∞
D er Herbst 1892 ging in den Winter über, der Frühling 1893 kam, und noch immer fehlte von Constant jede Spur. Léonie erlaubte sich die Hoffnung, dass er tot war, obwohl sie froh gewesen wäre, dafür eine Bestätigung zu bekommen.
Wie im Vorjahr war auch der August des Jahres 1893 heiß und trocken wie die afrikanischen Wüsten. Auf die Dürre folgte eine sintflutartige Überschwemmung im ganzen Languedoc, die in der Ebene große Landmassen wegspülte und längst vergessene Höhlen und
cachettes
unter dem Schlamm freilegte.
Achille Debussy schrieb weiterhin regelmäßig. Im Dezember schickte er Weihnachtsgrüße und berichtete Léonie, dass die Société Nationale de Musique eine Aufführung seines
L’Après-Midi d’un Faune
angesetzt habe, einer neuen Komposition, die den Auftakt einer Reihe von drei Orchesterwerken bildete. Während sie seine naturalistische Beschreibung des Fauns auf
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