Die achte Karte
Dann ein Zucken der bleichen Füße unter der Decke. Dann ein Prickeln auf der Haut im Nacken.
Sie bewegte die Hand, und die Hand öffnete sich.
Isolde hörte ein Geräusch. Diesmal nicht das unaufhörliche Flüstern, das stets bei ihr war, sondern das normale, alltägliche Geräusch eines Stuhlbeins, das über den Boden schleifte. Zum ersten Mal seit Monaten war es nicht durch Licht oder Zeit verzerrt, verstärkt oder gedämpft, sondern es klopfte unverfälscht an ihr Bewusstsein.
Sie spürte, wie sich jemand über sie beugte, warmer Atem auf ihrem Gesicht.
»Madama?«
Sie gestattete ihren Augen, sich flatternd zu öffnen. Sie hörte jemanden nach Luft schnappen, dann rasche Schritte und eine Tür, die aufgerissen wurde, laute Stimmen auf dem Flur, Klangspiralen, die sich von unten aus der Halle hochwanden, an Intensität gewannen, an Gewissheit gewannen.
»Madomaisèla Léonie! Madama s’éveille!«
Isolde blinzelte ins Licht. Noch mehr Geräusche, dann die Berührung kalter Finger, die ihre Hand ergriffen. Langsam drehte sie den Kopf zur Seite und sah das fürsorgliche junge Gesicht ihrer Nichte, das zu ihr herabblickte.
»Léonie?«
Sie spürte, wie ihre Hand gedrückt wurde. »Ich bin da.«
»Léonie …« Isoldes Stimme versagte. »Anatole, er …«
Isoldes Genesung verlief langsam. Sie kam wieder auf die Beine, aß mechanisch, schlief, doch ihr Körper erholte sich schlecht, und das Licht in ihren grauen Augen war verschwunden. Die Trauer hatte sie von sich selbst entfremdet. Alles, was sie dachte und sah, fühlte und roch, brachte quälend schmerzliche Saiten der Erinnerung zum Klingen.
Abends saß sie meist mit Léonie im Salon und sprach über Anatole, die schlanken weißen Finger auf den schwellenden Leib gelegt. Léonie lauschte, während Isolde die ganze Geschichte ihrer Liebe erzählte, vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an, über die Entscheidung, das Glück beim Schopf zu packen, und die Inszenierung auf dem Cimetière de Montmartre, bis hin zu der kurzlebigen Wonne ihrer heimlichen Heirat in Carcassonne am Vorabend des großen Sturms.
Doch ganz gleich, wie oft Isolde die Geschichte erzählte, der Schluss blieb immer gleich. Eine einmalige märchenhafte Liebe, die um ihr glückliches Ende betrogen worden war.
Der Winter ging endlich doch noch vorüber. Der Schnee schmolz, obwohl auch im Februar noch immer scharfer Frost den Morgen mit blendendem Weiß überzog.
Auf der Domaine de la Cade blieben Léonie und Isolde in ihrem Kummer verbunden, betrachteten trauernd die Schatten auf dem Rasen. Sie bekamen kaum Besuch, abgesehen von Audric Baillard und Madame Bousquet, die sich als großherzige Freundin und fürsorgliche Nachbarin erwies, obwohl sie durch Jules Lascombes Heirat den Besitz verloren hatte.
Wenn Monsieur Baillard seine Aufwartung machte, brachte er manchmal Neuigkeiten von der Fahndung nach Victor Constant, der in der Nacht des 31 . Oktober im Schutze der Dunkelheit aus dem Hôtel de la Reine in Rennes-les-Bains geflohen war und seitdem wie vom Erdboden verschluckt war.
Die Polizei hatte in verschiedenen Kurorten und Pflegehäusern, die auf die Behandlung von Männern in seinem Zustand spezialisiert waren, vergeblich nach ihm gesucht. Der Staat hatte die Beschlagnahmung seines beträchtlichen Vermögens eingeleitet. Auf seinen Kopf war eine Belohnung ausgesetzt. Aber trotz allem gab es nicht einen Hinweis, niemanden, der ihn gesehen haben wollte.
Am 25 . März, unglücklicherweise just der Jahrestag von Isoldes falscher Beerdigung auf dem Cimetière de Montmartre, erhielt Léonie einen offiziellen Brief von Inspektor Thouron. Wie er ihr mitteilte, ging man inzwischen davon aus, dass Constant außer Landes geflohen sei, vielleicht über die Grenze nach Andorra oder Spanien. Daher würde die Fahndung nach ihm eingeschränkt. Sie könne aber versichert sein, dass den Flüchtigen, sollte er je nach Frankreich zurückkehren, die Guillotine erwarte. Madame und Mademoiselle Vernier hätten also durch Constant nichts mehr zu befürchten.
Ende März, als sie aufgrund des garstigen Wetters schon seit Tagen das Haus nicht verlassen hatten, griff Léonie endlich zu Stift und Papier, um an Anatoles früheren Freund und Nachbarn Achille Debussy zu schreiben. Sie wusste, dass er sich inzwischen Claude Debussy nannte, konnte sich aber nicht überwinden, ihn so anzusprechen.
Die Korrespondenz füllte ein wenig die Leere in ihrem eingeschränkten Dasein aus und, was für ihr
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