Die achte Karte
von Rennes-les-Bains stehenließ und eilig zum Place des Deux Rennes ging. Er überquerte ihn diagonal und verschwand in der kleinen Seitenstraße, wo Dr. O’Donnell wohnte.
Er lockerte den Krawattenknoten am Hals. Unter den Achseln hatte er Schweißflecke. Je mehr er über seine Situation nachgedacht hatte, desto größer wurden seine Befürchtungen. Er wollte bloß die Karten finden. Alles, was das verhinderte oder hinauszögerte, war unerträglich. Kein Risiko.
Er hatte sich nicht überlegt, was er sagen würde. Er wusste nur, dass er nicht zulassen durfte, dass sie mit Hal zur Polizei fuhr.
Dann bog er um die Ecke und sah sie im Schneidersitz auf der niedrigen Mauer sitzen, die die Terrasse ihres Hauses von dem menschenleeren Fußweg trennte, der am Fluss entlangführte. Sie rauchte, strich sich mit einer Hand durchs Haar und telefonierte mit dem Handy.
Was erzählte sie da?
Julian blieb stehen, weil ihm auf einmal schwindlig wurde. Jetzt konnte er ihre Stimme hören, einen schnarrenden Akzent, lauter dünne Vokale, das einseitige Gespräch gedämpft vom Rauschen des Blutes in seinem Kopf.
Er trat einen Schritt näher, lauschte. Dr. O’Donnell beugte sich mit einer ruckartigen Bewegung vor und drückte die Zigarette in einem silbernen Aschenbecher aus. Ein paar Worte waren klar verständlich.
»Das mit dem Wagen muss ich regeln.«
Julian streckte eine Hand aus, um sich an der Mauer abzustützen. Sein Mund fühlte sich trocken an, wie ausgedörrt. Er brauchte einen Drink, um den unangenehmen, säuerlichen Geschmack loszuwerden. Er sah sich um, konnte nicht mehr klar denken. Da lag ein Knüppel auf dem Boden, ragte ein Stück aus der Hecke. Er hob ihn auf. Sie redete noch immer, ohne Unterlass, erzählte Lügen. Wieso hörte sie nicht auf zu reden?
Julian hob den Knüppel und schlug ihr damit auf den Kopf.
Shelagh O’Donnell schrie erschrocken auf, also schlug er noch einmal zu, damit sie still war. Sie kippte zur Seite auf die Steinplatten. Dann Stille.
Julian ließ die Waffe fallen. Einen Moment lang blieb er stocksteif stehen, entsetzt, fassungslos. Dann schob er den Knüppel mit dem Fuß wieder unter die Hecke und lief davon.
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Elfter Teil
Die Grabkapelle
November 1891 –Oktober 1897
Kapitel 88
∞
Domaine de la Cade, Sonntag, 1 . November 1891
A natole wurde auf der Domaine de la Cade bestattet. Man entschied sich für die kleine Landzunge mit Blick über das Tal am gegenüberliegenden Ufer des Sees, im grünen Schatten, direkt neben der halbmondförmigen Steinbank, auf der Isolde so gern saß.
Abbé Saunière leitete die schlichte Zeremonie. Léonie – am Arm von Audric Baillard –, Maître Fromilhague und Madame Bousquet waren die einzigen Trauergäste.
Isolde blieb unter ständiger Beobachtung in ihrem Zimmer, ahnte nicht einmal, dass die Beerdigung stattfand. Eingeschlossen in ihrer stillen Zwischenwelt, merkte sie nicht, wie schnell oder wie langsam die Zeit verging, ob die Zeit gar stehengeblieben oder ob jegliches Erleben im Schlag einer einzigen Minute enthalten war. Ihr Sein war auf die vier Wände ihres Kopfes zusammengeschrumpft. Sie wusste von hell und dunkel, dass manchmal das Fieber in ihr brannte und manchmal die Kälte an ihr zog, aber auch, dass sie irgendwo zwischen zwei Welten gefangen war, eingehüllt in einen Schleier, den sie nicht beiseiteschieben konnte.
Einen Tag später erwies dieselbe Gruppe Dr. Gabignaud auf dem Friedhof der Pfarrkirche von Rennes-les-Bains die letzte Ehre. Diesmal wurde die Trauergemeinde von den Menschen aus der Stadt verstärkt, die den jungen Mann gekannt und bewundert hatten. Dr. Courrent hielt eine Ansprache und lobte Gabignauds Fleiß, seine Passion und sein Pflichtgefühl.
Léonie, die wie betäubt war von Trauer und der Last der Verantwortung, die so unvermittelt auf ihre jungen Schultern gelegt worden war, zog sich nach den Beisetzungen auf die Domaine de la Cade zurück und ging kaum noch nach draußen. Der Haushalt verfiel in einen freudlosen Trott, die nicht enden wollenden Tage gingen unterschiedslos ineinander über.
In dem kahlen Buchenwald fiel der erste Schnee, überzog Rasen und Park mit Weiß. Der See fror zu und lag wie ein eisiger Spiegel unter düsteren Wolken.
Ein neuer junger Arzt, Gabignauds Nachfolger als Assistent von Dr. Courrent, kam täglich von der Stadt herauf, um nach Isolde zu sehen.
»Heute Abend ist Madame Verniers Puls sehr schnell«, sagte er ernst, während er seine Gerätschaften
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