Die achte Karte
der Waldlichtung las, musste Léonie an die Lichtung denken, auf der sie zwei Jahre zuvor die Karten gefunden hatte. Für einen Moment war sie versucht, noch einmal zu der Stelle zu gehen und nachzuschauen, ob das Tarot noch immer dort war.
Sie tat es nicht.
Ihr Leben fand nicht mehr auf den Boulevards und Avenuen von Paris statt, sondern wurde weiterhin von dem Buchenwald im Osten, der langen Einfahrt im Norden und den Rasenflächen im Süden begrenzt. Kraft gaben ihr allein die Liebe eines kleinen Jungen und ihre Zuneigung zu der schönen, aber leidenden Frau, für die zu sorgen sie versprochen hatte.
Louis-Anatole war bei allen in der Stadt ebenso beliebt wie bei den Bediensteten, die ihn
pichon
nannten, Kleiner. Er war lausbübisch, aber immer bezaubernd. Er war voller Fragen, eher wie seine Tante denn wie sein toter Vater, konnte aber auch zuhören. Als er größer wurde, machten er und Léonie lange Spaziergänge auf der Domaine de la Cade. Oder Pascal nahm ihn mit zum Angeln und brachte ihm im See das Schwimmen bei. Wenn Marieta Himbeersoufflés oder Schokoladenpudding gekocht hatte, erlaubte sie ihm manchmal, die Rührschüssel auszukratzen und den Holzlöffel abzulecken. Oder sie band ihm von einem der Hausmädchen eine frische weiße Schürze um, die ihm bis zu den Knöcheln hing, ließ ihn auf den alten dreibeinigen Hocker steigen, der ganz nah an den Küchentisch herangeschoben worden war, und zeigte ihm, dicht hinter ihm stehend, damit er nicht herunterfiel, wie man den Brotteig knetete.
Wenn Léonie ihn nach Rennes-les-Bains mitnahm, war es seine größte Freude, in das Straßencafé zu gehen, das Anatole so geliebt hatte. Mit seinen langen Locken, dem weißen Rüschenhemd und der Kniebundhose aus nussbraunem Samt ließ er dann die Beine von dem hohen Holzstuhl baumeln. Er trank Kirschsaft oder frisch gepressten Apfelsaft und aß Mohrenköpfe.
An seinem dritten Geburtstag schenkte Madame Bousquet Louis-Anatole eine Angelrute aus Bambus. Weihnachten desselben Jahres schickte Maître Fromilhague eine Kiste mit Zinnsoldaten herauf und ließ Léonie seine besten Weihnachtsgrüße bestellen.
Der Kleine war auch regelmäßiger Gast bei Audric Baillard, der ihm Geschichten aus dem Mittelalter erzählte, von ruhmreichen
chevaliers,
die für die Unabhängigkeit des Midi gegen die Eroberer aus dem Norden gekämpft hatten.
Doch anstatt den Jungen mit der Nase in die Seiten muffiger Geschichtsbücher zu stoßen, die in der Bibliothek der Domaine de la Cade Staub ansetzten, erweckte Monsieur Baillard die Vergangenheit zum Leben.
Am liebsten hörte Louis-Anatole die Geschichte von der Belagerung Carcassonnes im Jahr 1209 und von den tapferen Männern, Frauen und sogar Kindern, manche kaum älter als er, die in die versteckten Dörfer des Haute Vallée geflohen waren.
Zu seinem vierten Geburtstag schenkte Audric Baillard ihm die verkleinerte Nachbildung eines mittelalterlichen Schlachtschwertes, in dessen Heft seine Initialen eingraviert waren. Mit Hilfe von einem der zahllosen Vettern Pascals kaufte Léonie ihm in Quillan ein kleines fuchsfarbenes Pony, mit dicker weißer Mähne und buschigem Schweif und einem weißen Fleck auf der Nase. Von da an war Louis-Anatole für die Dauer des heißen Sommers ein
chevalier,
stritt gegen die Franzosen oder triumphierte im ritterlichen Zweikampf, wenn er die Blechdosen von dem Holzzaun schlug, den Pascal extra für diesen Zweck auf dem Rasen hinter dem Haus gebaut hatte. Léonie schaute oft vom Salonfenster aus zu und erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen immer zugesehen hatte, wenn Anatole im Parc Monceau herumtollte, Verstecken spielte oder auf Bäume kletterte, und dabei ein ganz ähnliches Gefühl von Bewunderung und Neid empfunden hatte.
Louis-Anatole ließ außerdem eine ausgeprägte musikalische Begabung erkennen, als zahlte sich nun beim Sohn das Geld aus, das für den Klavierunterricht des jungen Anatole vergeudet worden war. Léonie engagierte einen Klavierlehrer aus Limoux. Einmal pro Woche kam der Professor mit seinem weißen Halstuch, einem steifen Kragen und dem ungepflegten Bart im Einspänner die Einfahrt heraufgerumpelt und traktierte Louis-Anatole mit Fünffingerübungen und Tonleitern. Jede Woche bedrängte er Léonie beim Abschied, sie solle den Jungen mit vollen Wassergläsern auf den Handrücken üben lassen, um seinen Anschlag zu verbessern. Léonie und Louis-Anatole nickten stets ergeben, und die nächsten paar Tage versuchten sie
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