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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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es auch wirklich. Doch dann schwappte das Wasser über, auf Louis-Anatoles samtene Reithose oder den weiten Saum von Léonies Kleid, und dann prusteten sie beide los vor Lachen und fingen stattdessen an, ausgelassene Duette zu klimpern.
    Wenn er allein war, schlich der Junge oft zum Flügel und experimentierte herum. Dann stand Léonie unbemerkt oben an der Treppe und lauschte den sanften, eingängigen Melodien, die der Kleine unter seinen Fingern hervorzauberte. Ganz gleich, wie er anfing, irgendwann fand er meist doch seinen Weg in die Tonart a-Moll. Und dann dachte Léonie an das Notenblatt, das sie vor so langer Zeit aus der Grabkapelle gestohlen hatte und das noch immer in der Klavierbank versteckt lag. Sie überlegte, ob sie es ihm zeigen sollte. Doch die Furcht vor der Macht der Musik und ihrer möglichen Wirkung auf die Domaine de la Cade hielt sie stets davon ab.
    Während all dieser Zeit lebte Isolde in einer Dämmerwelt, glitt durch die Räume und Gänge des Hauses wie ein Gespenst. Sie sprach wenig, war freundlich zu ihrem Sohn und bei den Dienstboten überaus beliebt. Nur wenn sie in Léonies smaragdgrüne Augen sah, blitzte tiefer in ihr etwas auf. Dann loderten für einen kurzen Moment Trauer und Erinnerung in ihrem Blick, ehe der dunkle Vorhang sich wieder über sie senkte.
    Manche Tage waren besser als andere. Mitunter tauchte Isolde aus ihrem Schatten auf, als träte die Sonne hinter Wolken hervor. Doch dann setzten die Stimmen erneut ein, und sie presste die Hände auf die Ohren und weinte, und Marieta führte sie sachte zurück in die Abgeschiedenheit ihres Zimmers, bis wieder bessere Zeiten kamen. Die Phasen des Friedens wurden kürzer. Die Dunkelheit um sie wurde tiefer. Nie war Anatole ihren Gedanken fern. Louis-Anatole nahm seine Mutter so, wie sie war – schließlich hatte er sie nie anders erlebt.
    Alles in allem war es nicht das Leben, das Léonie sich vorgestellt hatte. Sie hätte sich Liebe gewünscht, die Chance, mehr von der Welt zu sehen, sie selbst sein zu können. Doch sie liebte ihren Neffen und bedauerte Isolde, und da sie das Versprechen, das sie Anatole gegeben hatte, unter keinen Umständen brechen wollte, erfüllte sie unbeirrt ihre Pflicht.
    Ein rotbunter Herbst nach dem anderen ging in kalte weiße Winter über, in denen hoher Schnee auf dem Grab von Marguerite Vernier in Paris lag. Auf so manchen Frühling folgten flammende Himmel und versengtes Land, und die Dornenbüsche wuchsen immer dichter um Anatoles bescheidenes Grab über dem See der Domaine de la Cade.
    Erde, Wind, Wasser und Feuer, das unveränderliche Muster der Natur.
     
    Ihr beschauliches Dasein sollte nicht viel länger währen. Zwischen Weihnachten und dem Neujahrstag 1897 gab es eine Reihe von Anzeichen – böse Omen, sogar Warnungen –, dass etwas nicht stimmte.
    In Quillan stürzte ein Schornsteinfegerjunge vom Dach und brach sich das Genick. In Espéraza kamen bei einem Brand in der Hutfabrik vier spanische Arbeiterinnen ums Leben. In dem
atelier
der Familie Bousquet geriet ein Lehrling in die heiße Druckerpresse und verlor vier Finger der rechten Hand.
    Für Léonie wurde die allgemeine Beunruhigung greifbar, als Monsieur Baillard kam und ihr die traurige Mitteilung überbrachte, dass er Rennes-les-Bains verlassen müsse. Es war die Zeit der Winterjahrmärkte – am 19 . Januar in Brenac, am 20 . in Campagne-sur-Aude und am 22 . in Belvianes. Er wollte diese abgelegenen Dörfer besuchen und dann noch höher in die Berge. Mit sorgenvollen Augen erklärte er, er habe Verpflichtungen, die älter und bindender seien als seine inoffizielle Vormundschaft von Louise-Anatole und die er nicht länger aufschieben könne. Léonie bedauerte seine Entscheidung, hütete sich aber, sie in Frage zu stellen. Er gab ihr sein Wort, spätestens zu Sankt Martin im November zurück zu sein, wenn die Pacht fällig wurde.
    Sie war bestürzt, dass er so viele Monate fortbleiben würde, aber wie sie schon vor langer Zeit erkannt hatte, ließ Monsieur Baillard sich nie von einer einmal getroffenen Entscheidung abbringen.
    Seine bevorstehende Abreise – und der unerklärte Grund dafür – riefen Léonie erneut in Erinnerung, wie wenig sie doch über ihren Freund und Beschützer wusste. Nicht einmal sein genaues Alter war ihr bekannt, auch wenn Louis-Anatole erklärt hatte, bei den vielen Geschichten, die Monsieur Baillard zu erzählen hatte, müsse er mindestens siebenhundert Jahre alt sein.
    Wenige Tage nachdem Audric

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