Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
in die schwarze Ledertasche packte und das Stethoskop vom Hals zog. »Ihre tiefe Trauer in Verbindung mit ihrer stark angegriffenen körperlichen Verfassung, tja, ich fürchte, wenn nicht bald eine Besserung eintritt, wird sie nicht mehr gesund.«
     
    Im Dezember verschlechterte sich das Wetter. Tosende Stürme zogen von Norden heran, und Hagel und Eisregen griffen in Wellen Dach und Fenster des Hauses an.
    Das Tal der Aude war in Trübsal erstarrt. Wer keine Bleibe hatte, fand, so er denn Glück hatte, bei Nachbarn Unterschlupf. Die Flüsse froren zu. Wege wurden unpassierbar. Es gab keine Nahrung, weder für Mensch noch für Tier. Die helle Glocke des Mesners schallte über die Felder, wenn Christus durchs Land getragen wurde, um die Lippen eines weiteren sterbenden Sünders zu segnen, über tückische, schneebedeckte Pfade. Es war, als würde alles Leben allmählich aufhören zu existieren. Kein Licht, keine Wärme mehr, nur noch erloschene Kerzen.
    In der Pfarrkirche von Rennes-les-Bains zelebrierte Curé Boudet Messen für die Toten, und die Glocke ließ ihren trauervollen Abschiedston erklingen. In Coustaussa öffnete Curé Gélis seine Pforten und ließ die Obdachlosen im Chorraum auf den kalten Fliesen lagern. In Rennes-le-Château hielt Abbé Saunière Predigten über das Böse, das durchs Land strich, und beschwor seine Gemeinde, das Heil in den Armen der einzig wahren Kirche zu suchen.
    Auf der Domaine de la Cade waren die Dienstboten zwar aufgewühlt von den Ereignissen und ihrer eigenen Rolle dabei, aber sie blieben standhaft. Angesichts von Isoldes anhaltender Erkrankung akzeptierten sie Léonie als Hausherrin. Doch Marieta machte sich Sorgen, weil der Kummer Léonie Appetit und Schlaf raubte und sie schon ganz mager und blass geworden war. Ihre grünen Augen hatten allen Glanz verloren. Doch sie blieb tapfer. Sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie Anatole gegeben hatte, Isolde und ihr Kind zu beschützen, und sie war fest entschlossen, sein Andenken in Ehren zu halten.
    Victor Constant wurde der Mord an Marguerite Vernier in Paris zur Last gelegt, der Mord an Anatole Vernier in Rennes-les-Bains und der versuchte Mord an Isolde Vernier, verwitwete Lascombe. Außerdem war gegen ihn ein Verfahren wegen eines Angriffs auf eine Prostituierte in Carcassonne anhängig.
    Man ging davon aus – und das ohne weitere Ermittlungen –, dass Dr. Gabignaud, Charles Denarnaud und ein dritter Komplize in dieser unglückseligen Angelegenheit auf Geheiß von Victor Constant getötet worden waren, auch wenn er nicht selbst den Finger am Abzug gehabt hatte.
    Die Stadt nahm die Nachricht von Anatoles und Isoldes heimlicher Vermählung zwar ablehnend auf, aber eher deshalb, weil sie diesen Schritt so überstürzt vollzogen hatten, weniger weil er der Neffe ihres ersten Gatten war. Doch alles in allem, so schien es, würde man sich schon irgendwann mit den neuen Verhältnissen auf der Domaine de la Cade abfinden.
    Der Stapel Brennholz an der Küchenmauer schwand dahin. Nur wenig deutete darauf hin, dass Isolde ihre Geistesverfassung wiedergewinnen würde, obgleich das Kind in ihr wuchs und gedieh. In ihrem Zimmer im ersten Stock der Domaine de la Cade knackte und knisterte Tag und Nacht ein kräftiges Feuer im Kamin. Die wenigen Stunden Sonnenlicht konnten die Luft kaum erwärmen, ehe die Dunkelheit sich wieder über das Land senkte.
    Isolde war noch immer von Trauer überwältigt und verharrte auf der Schwelle zwischen der Welt, aus der sie sich zeitweilig verabschiedet hatte, und dem unbekannten jenseitigen Land. Die Stimmen, die stets bei ihr waren, raunten ihr zu, dass sie nur weiterschreiten müsse, um zu denjenigen zu gelangen, die sie liebte und die auf sonnenbeschienenen Lichtungen ihrer harrten. Anatole würde dort sein, in sanftes, einladendes Licht getaucht. Es gab nichts zu fürchten. In Augenblicken, in denen sie so etwas wie Gnade empfand, sehnte sie sich danach, zu sterben. Bei ihm zu sein. Doch der Geist seines Kindes, das geboren werden wollte, war zu stark.
    An einem trüben und lautlosen Nachmittag, der sich in nichts von den Tagen unterschied, die ihm vorausgegangen waren oder die ihm folgen sollten, spürte Isolde das Gefühl in ihre zarten Glieder zurückkehren. Zuerst in ihre Finger. So schleichend, dass es leicht mit etwas anderem zu verwechseln gewesen wäre. Eine unwillkürliche Reaktion, nichts Zielgerichtetes. Ein Kitzeln in den Fingerspitzen und unter ihren mandelförmigen Nägeln.

Weitere Kostenlose Bücher