Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
fühle sich dem Menschengedränge nicht gewachsen. Louis-Anatole war nicht enttäuscht, weil er in Wahrheit gar nicht damit gerechnet hatte, dass seine Mutter sie begleiten würde. Doch Léonie erlaubte sich einen ungewöhnlichen Anflug von Gereiztheit, weil Isolde sich selbst zu diesem besonderen Anlass nicht ihrem Sohn zuliebe aufraffen konnte.
    Léonie und Louis-Anatole brachen mit Pascal zusammen auf und überließen es Marieta, sich um ihre Herrin zu kümmern. Das
spectacle
war von Monsieur Sabatier, einem örtlichen Fabrikanten, geplant und finanziert worden. Der Mann hatte den Aperitif L’Or-Kina erfunden sowie den Likör Micheline, der als »La Reine des Liqueurs« galt. Das Feuerwerk war ein Experiment, doch sollte es erfolgreich ausfallen, so das Versprechen, würde es im Jahr darauf größer und besser werden. Sabatier war allgegenwärtig, auf den Flugzetteln, die Louis-Anatole als Andenken an ihren Ausflug in seinen kleinen Händen sammelte, und auf den Plakaten, mit denen die Hauswände beklebt waren.
    Als das Tageslicht allmählich schwand, versammelten sich mehr und mehr Menschen am rechten Ufer der Aude, im Quartier Trivalle, und starrten zu den restaurierten Brustwehren der Cité hinauf. Kinder, Gärtner und Dienstmädchen aus den großen Häusern, Verkäuferinnen und Stiefelputzer, alle eilten zur Kirche Saint-Gimer, wo Léonie damals mit Victor Constant Schutz gesucht hatte. Sie wollte nicht daran denken.
    Am linken Ufer drängten sich die Menschen dicht an dicht vor dem Hôpital des Malades. Kinder balancierten auf der Mauer neben der Chapelle de Saint-Vincent-de-Paul. In der Bastide strömten sie an der Porte des Jacobins und am gesamten Flussufer zusammen. Keiner wusste, was sie zu erwarten hatten.
    »Rauf mit dir,
pichon«,
sagte Pascal und setzte sich den Jungen mit Schwung auf die Schultern.
    Léonie, Pascal und Louis-Anatole fanden einen Platz auf der Pont Vieux und quetschten sich in eine der spitzen
becs
 – der Nischen –, die über das Wasser ragten. Léonie flüsterte Louis-Anatole ins Ohr, als vertraute sie ihm ein großes Geheimnis an, dass angeblich selbst der Bischof von Carcassonne aus seinem Palast gekommen sei, um diese große Feier der Republik mit eigenen Augen mitzuerleben.
    Als es richtig dunkel wurde, kamen die Leute vom Essen aus den umliegenden Restaurants und ließen die Menschenmassen auf der alten Brücke weiter anschwellen. Es wurde drückend eng. Léonie sah zu ihrem Neffen hoch, voller Sorge, weil er es nicht gewohnt war, so spät noch draußen zu sein, und weil der Lärm und der Schießpulvergeruch ihn verstören könnten. Zu ihrer Erleichterung jedoch bemerkte sie denselben wachen und konzentrierten Ausdruck auf Louis-Anatoles Gesicht, wie sie ihn früher auf Achilles Gesicht gesehen hatte, wenn er an seinem Klavier saß und komponierte.
    Mit einem Lächeln stellte Léonie fest, dass sie mehr und mehr in der Lage war, sich an ihren Erinnerungen zu erfreuen, ohne von Trauer übermannt zu werden.
    In dem Augenblick begann das
embrassement de la Cité.
Die mittelalterlichen Mauern wurden in ein wütendes Tosen aus orangegelben und roten Flammen, Funken und vielfarbigem Rauch gehüllt. Raketen jagten hinauf in den Nachthimmel und explodierten.
    Wolken aus beißendem Qualm wälzten sich den Berg hinunter und über den Fluss und brannten den Zuschauern in den Augen, doch das prächtige Schauspiel entschädigte sie überreich für diese Unannehmlichkeit. Der nachtblaue Himmel färbte sich lila und glitzerte bald darauf grün und weiß und rot, während die Zitadelle in Flammen und Tosen und strahlendes Licht gehüllt wurde.
    Léonie spürte Louis-Anatoles kleine heiße Hand auf ihre Schulter gleiten. Sie bedeckte sie mit ihrer eigenen. Vielleicht war das hier ein Neuanfang? Vielleicht würde der Kummer, der ihr Leben nun schon so lange, zu lange beherrschte, endlich seinen Klammergriff lösen und ihr Gedanken an eine hellere Zukunft erlauben.
    »
A l’avenir«,
sagte sie halblaut, in Erinnerung an Anatole.
    Sein Sohn hörte sie.
»A l’avenir,
Tante Léonie«, erwiderte er. Er überlegte kurz und fragte dann: »Wenn ich brav bin, können wir dann nächstes Jahr wieder herkommen?«
     
    Als das Feuerwerk zu Ende war und die Menge sich zerstreute, trug Pascal den schläfrigen Jungen zurück zum Gasthaus.
    Léonie brachte ihn ins Bett. Mit dem Versprechen, bald wieder so etwas Schönes zu unternehmen, gab sie ihm einen Gutenachtkuss und ging aus dem Zimmer, in dem sie

Weitere Kostenlose Bücher