Die achte Karte
die einer Frau, die ihren Lebensunterhalt verdienen musste.
Tistou war der Sohn eines Stoffhändlers und einer Näherin, daher wusste er, was gute ägyptische Baumwolle war. Er fand das eingenähte Zeichen des Schneiders – aus Paris – noch immer lesbar im Kragen. Sie trug ein silbernes Medaillon um den Hals, massiv, nicht bloß versilbert, und darin waren zwei Miniaturen, die eine das Bildnis von der Dame selbst, die andere das von einem jungen, dunkelhaarigen Mann. Tistou ließ es, wo es war. Er war ein ehrlicher Mann – keiner von diesen Aasgeiern, die an den Wehren mitten in der Stadt arbeiteten und Wasserleichen immer erst filzten, bevor sie sie der Obrigkeit übergaben –, aber er wusste gerne, wer die Menschen waren, die er dem Wasser wieder abgerungen hatte.
Isolde wurde rasch identifiziert. Léonie hatte sie bei Tagesanbruch als vermisst gemeldet, gleich nachdem Marieta aufgewacht war und festgestellt hatte, dass ihre Herrin verschwunden war.
Sie waren gezwungen, ein paar Tage in der Stadt zu bleiben, bis alle Formalitäten erledigt und die notwendigen Papiere unterzeichnet waren, aber es gab keinen Zweifel am Urteil des Magistrats: Selbstmord im Zustand geistiger Verwirrung.
Es war ein trüber, bewölkter und stiller Julitag, als Léonie Isolde zum letzten Mal zurück auf die Domaine de la Cade brachte. Da sie die Todsünde begangen hatte, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, erlaubte die Kirche nicht, Isolde in geweihter Erde zu begraben. Außerdem war für Léonie die Vorstellung unerträglich, sie in der Familiengruft der Lascombes zu bestatten.
Stattdessen bat sie Curé Gélis aus Coustaussa, dem Dorf mit der Burgruine auf halber Strecke zwischen Couiza und Rennes-les-Bains, eine private Gedenkfeier auf dem Boden der Domaine de la Cade abzuhalten. Sie hätte eigentlich lieber Abbé Saunière angesprochen, aber unter den gegebenen Umständen – er war noch immer Zielscheibe scharfer Kritik – hielt sie es für unklug, ihn in einen weiteren Skandal zu verwickeln.
In der Abenddämmerung des 20 . Juli 1897 bestatteten sie Isolde neben Anatole auf dem friedlichen Fleckchen Erde der Landzunge, die sich über den See erhob. Auf einem neuen schlichten Grabstein, der flach in den grasbewachsenen Boden eingelassen wurde, waren ihre Namen und Lebensdaten verewigt.
Während Léonie den gemurmelten Gebeten lauschte und fest Louis-Anatoles Hand hielt, dachte sie daran zurück, wie sie Isolde sechs Jahre zuvor in Paris schon einmal auf einem Friedhof die letzte Ehre erwiesen hatte. Die Erinnerung überfiel sie so unvermittelt und heftig, dass ihr der Atem stockte: wie sie selbst in dem alten Salon in der Rue de Berlin mit gefalteten Händen an einem geschlossenen Sarg stand, während ein vergessenes Palmenblatt in der Glasschale auf der Anrichte trieb. Das süßliche Aroma von Ritual und Tod, das in jeden Winkel der Wohnung gedrungen war, Weihrauchduft und Kerzen, um den widerwärtigen Leichengeruch zu überdecken. Nur dass es gar keine Leiche gegeben hatte. Und ein Stock tiefer Achille, der ohne Unterlass sein Klavier bearbeitete, schwarze und weiße Noten, die durch die Bodendielen nach oben drangen, bis Léonie meinte, sein Geklimper würde sie in den Wahnsinn treiben.
Als sie jetzt den dumpfen Aufprall der Erde auf dem Holzdeckel des Sarges hörte, war ihr einziger Trost, dass Anatole dieser Tag erspart geblieben war.
Als ob er ihre Stimmung spüren könnte, griff Louis-Anatole nach oben und schob seinen kleinen Arm um ihre Taille.
»Keine Sorge, Tante Léonie. Ich pass auf dich auf.«
Kapitel 91
∞
D er Privatsalon im ersten Stock eines Hotels auf der spanischen Seite der Pyrenäen war mit dem beißenden Qualm türkischer Zigaretten erfüllt, die der derzeitige Gast seit seiner Ankunft vor einigen Wochen rauchte.
Es war ein warmer Augusttag, doch er war mit einem dicken grauen Mantel und weichen Kalbslederhandschuhen fast winterlich gekleidet. Sein Körper war ausgezehrt, und das unaufhörliche leichte Wackeln seines Kopfes wirkte, als verneinte er eine Frage, die sonst niemand hören konnte. Mit zitternder Hand führte er ein Glas dunkles Bier an den Mund. Er trank behutsam durch Lippen, die in den Mundwinkeln mit schorfigen Eiterbläschen bedeckt waren. Doch trotz seiner verhärmten Erscheinung lag ein herrischer Blick in seinen Augen, der die Seelen der Betrachteten durchbohrte wie ein scharfes Stilett.
Er hielt sein Glas hoch.
Sein Diener trat mit einer Flasche Starkbier
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