Die achte Karte
vor und füllte das Glas seines Herrn. Für einen Moment gaben sie ein groteskes Bild ab, der entstellte Kranke und sein grauhaariger Diener, dessen Kopfhaut mit Blasen überzogen und blutig gekratzt war.
»Was gibt es für Neuigkeiten?«
»Man sagt, sie ist ertrunken. Ins Wasser gegangen«, erwiderte der Diener.
»Und die andere?«
»Kümmert sich um das Kind.«
Constant antwortete nicht. Die Jahre des Exils und das unerbittliche Fortschreiten der Krankheit hatten ihn geschwächt. Sein Körper war hinfällig geworden. Er konnte nicht mehr gut gehen. Aber das alles schien seinen Verstand nur noch weiter geschärft zu haben. Vor sechs Jahren war er gezwungen gewesen, schneller zu handeln, als ihm lieb war. Dadurch war ihm das Vergnügen geraubt worden, seine Rache zu genießen. Sein Vorhaben, die Schwester zu vernichten, hätte nur Sinn gehabt, wenn er Vernier damit hätte quälen können, daher bedeutete es ihm wenig. Doch der rasche und schmerzlose Tod, den er Vernier bereitet hatte, enttäuschte ihn bis heute, und nun sah es so aus, als wäre er auch noch um Isolde betrogen worden.
Aufgrund seiner überstürzten Flucht über die Grenze nach Spanien hatte Constant erst rund zwölf Monate nach den Ereignissen des 31 . Oktober 1891 erfahren, dass die Hure nicht nur seine Kugel überlebt, sondern auch noch einen Sohn geboren hatte. Wieder war sie ihm entkommen, und das ließ ihm keine Ruhe.
Nur der brennende Wunsch, seine Rache zu vollenden, hatte ihn die letzten sechs Jahre geduldig warten lassen. Die Versuche, sein Vermögen zu beschlagnahmen, hätten ihn fast ruiniert. Seinen Anwälten war es nur unter Aufbietung all ihrer Tricks und Kniffe gelungen, seinen Reichtum zu bewahren und seinen Aufenthaltsort geheim zu halten.
Constant war gezwungen gewesen, vorsichtig und besonnen zu handeln, im Exil jenseits der Grenze zu bleiben, bis Gras über die Sache gewachsen war. Dann endlich, im letzten Winter, war Inspektor Thouron befördert und mit der Aufgabe betraut worden, die Ermittlungen im Fall des verurteilten Armeeoffiziers Dreyfus wiederaufzunehmen, der die Pariser Polizei so beschäftigte. Noch wichtiger für Constants verzehrendes Verlangen, sich an Isolde zu rächen, war die Nachricht, dass Inspektor Bouchou von der Gendarmerie in Carcassonne vier Wochen zuvor in den Ruhestand gegangen war.
Endlich war für Constant der Weg frei, in aller Heimlichkeit nach Frankreich zurückzukehren.
Im Frühjahr hatte er seinen Diener vorausgeschickt, um die nötige Vorarbeit zu leisten. Es war leicht gewesen, mit anonymen Briefen an Stadtverwaltung und kirchliche Würdenträger eine Verleumdungskampagne gegen Abbé Saunière zu entfachen, den Geistlichen, der besonders eng mit der Domaine de la Cade und den Geschehnissen verbunden war, von denen Constant wusste, dass sie sich zu Jules Lascombes Zeit ereignet hatten. Constant hatte die Gerüchte von einem Teufel gehört, einem Dämon, der in der Vergangenheit losgelassen worden war und das Land heimgesucht hatte.
Seine gedungenen Helfer hatten die neuen Gerüchte von einer Bestie verbreitet, die durch die Bergtäler streifte und Vieh riss. Sein Diener reiste von Dorf zu Dorf, stachelte die Menschen auf und erzählte ihnen, in der Grabkapelle auf dem Gelände der Domaine de la Cade würden erneut okkultistische Dinge geschehen. Er begann bei den Gefährdeten und Schutzlosen, den barfüßigen Bettlern, die im Freien schliefen oder unter den Karren der Fuhrleute Schutz suchten, bei den Winterhirten in ihrer Abgeschiedenheit auf den Bergen, bei denjenigen, die im Gefolge der Assisengerichte von Ort zu Ort zogen. Er träufelte Constants Gift in die Ohren der Stoffhändler und Glaser, der Stiefelputzer aus den feinen Häusern, der Aufwartefrauen und Küchenmägde.
Die Dörfler waren abergläubisch und leicht zu täuschen. Brauchtum, Mythen und die Geschichte schienen seine Lügen zu bestätigen. Hier und da eine getuschelte Bemerkung, dass die Kratzspuren nicht von Tierklauen stammten. Dass des Nachts seltsames Heulen zu hören war, ein fauliger Gestank zu riechen. Alles Hinweise darauf, dass irgendein übernatürlicher Dämon gekommen war, um Vergeltung für die widernatürlichen Umstände auf der Domaine de la Cade zu üben – eine Tante, die sich mit dem Neffen ihres Mannes verehelicht hatte.
Und jetzt waren alle drei tot.
Mit unsichtbaren Fäden spann er sein Netz um die Domaine de la Cade.
Und wenn so manche Vorfälle auch gar nicht auf das Konto seines Dieners
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