Die achte Karte
Baillard sich verabschiedet hatte, kam es in Rennes-le-Château zum Skandal. Die von Abbé Saunière begonnene Restaurierung der Kirche war nahezu abgeschlossen. In den ersten kalten Monaten des Jahres 1897 wurden die Bildhauerarbeiten geliefert, die in Toulouse bestellt worden waren. Darunter befand sich auch ein
bénitier
– ein Weihwasserbecken –, das auf den Schultern eines gekrümmten Dämons ruhte. Ablehnende Stimmen wurden laut, denn viele waren der Ansicht, diese und viele andere Statuen gehörten nicht in ein Gotteshaus. In der Mairie und beim Bischof gingen Protestschreiben ein, manche davon anonym, mit der Forderung, Saunière zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem sollte dem Pfarrer untersagt werden, weiter auf dem Friedhof zu graben.
Léonie hatte nichts von diesen nächtlichen Ausgrabungen gewusst, auch nicht, dass Saunière angeblich in den Stunden zwischen Abend- und Morgendämmerung in den Bergen der Umgebung nach einem Schatz suchte, so wurde zumindest gemunkelt. Sie hörte weder auf das Gerede, noch beteiligte sie sich an der wachsenden Flut von Beschwerden gegen einen Geistlichen, den sie für einen ergebenen Diener seiner Gemeinde gehalten hatte. Aber ihr war unbehaglich zumute, weil einige der Statuen eine genaue Nachbildung von denjenigen in der Grabkapelle waren. Es war, als führe irgendwer Abbé Saunières Hand und versuche zugleich, die Menschen gegen ihn aufzubringen.
Léonie wusste, dass er die Statuen zu Lebzeiten ihres Onkels gesehen hatte. Und sie verstand nicht, warum er sich rund zwölf Jahre später dazu veranlasst sah, diese Bilder kopieren zu lassen. In Abwesenheit ihres Freundes und Mentors Audric Baillard hatte sie niemanden, mit dem sie über ihre Befürchtungen hätte reden können.
Der Unmut breitete sich bis ins Tal hinunter nach Rennes-les-Bains aus.
Plötzlich flüsterten Stimmen, der Schrecken, der die Stadt Jahre zuvor heimgesucht hatte, sei zurückgekehrt. Es gab Gerüchte von unterirdischen Geheimgängen zwischen Rennes-le-Château und Rennes-les-Bains, von Grabkammern aus der Zeit der Westgoten. Immer lauter wurden die Behauptungen, die Domaine de la Cade böte wieder einmal einer wilden Bestie Unterschlupf. Hunde, Ziegen, sogar Ochsen wurden gerissen, von Wölfen oder Bergkatzen, die offenbar weder Fallen fürchteten noch die Gewehre der Jäger. Es war eine übernatürliche Kreatur, so munkelte man, keine, die den normalen Gesetzen der Natur gehorchte.
Obwohl Pascal und Marieta sich größte Mühe gaben, damit das Geschwätz nicht an Léonies Ohren drang, blieben ihr einige besonders bösartige Geschichten doch nicht verborgen. Die Kampagne verlief schleichend, die Vorwürfe wurden nie laut ausgesprochen, daher konnte Léonie der wachsenden Flut von Beschuldigungen gegen die Domaine de la Cade und ihre Bewohner nichts entgegensetzen.
Es war nicht festzustellen, woher die heimtückischen Gerüchte kamen, nur dass sie immer mehr um sich griffen. Als der Winter verging und ein nasskalter Frühling ins Land zog, häuften sich die Berichte von unnatürlichen Vorgängen auf der Domaine de la Cade. Es waren Geister und Dämonen gesichtet worden, so sagte man, selbst von satanischen Ritualen, die nächtens in der Grabkapelle stattfanden, war die Rede. Die dunklen Tage von Jules Lascombes Zeit als Herr des Hauses kehrten zurück. Die Verbitterten und die Neider verwiesen auf die Ereignisse am Vorabend von Allerheiligen 1891 und behaupteten, das Land sei ruhelos, verlange Sühne für die Sünden der Vergangenheit.
Alte Zaubersprüche, halb vergessene Worte in der traditionellen Sprache wurden in Felsen am Straßenrand gekratzt, um die Dämonen abzuwehren, die nun, wie schon früher, durchs Tal strichen. Pentagramme in schwarzem Teer wurden auf Wegsteine gepinselt. Blumen und Bänder wurden als Votivgaben an alten Schreinen hinterlassen.
Eines Nachmittags, als Léonie mit Louis-Anatole an dessen Lieblingsplatz unter den Platanen auf dem Place du Pérou saß, drang plötzlich ein leise gezischelter Satz an ihr Ohr.
»Lou Diable se ris.«
Sobald sie zurück auf der Domaine de la Cade waren, fragte sie Marieta, was die Worte bedeuteten.
»Der Teufel lacht«, übersetzte das Hausmädchen widerstrebend.
Hätte Léonie nicht genau gewusst, dass dergleichen unmöglich war, hätte sie Victor Constant hinter den Gerüchten und dem Geschwätz vermutet. Sie schalt sich selbst für derlei Gedanken.
Constant war tot. Davon ging die Polizei aus. Er musste tot sein. Warum
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