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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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hätte er sie sonst fast fünf Jahre in Ruhe lassen sollen, nur um jetzt zurückzukehren?

Kapitel 90
    ∞
    Carcassonne
    A ls die Julihitze die grünen Weiden zwischen Rennes-le-Château und Rennes-les-Bains braun gefärbt hatte, konnte Léonie es nicht länger ertragen, so auf dem Anwesen eingesperrt zu sein. Sie brauchte eine Abwechslung.
    Die Geschichten um die Domaine de la Cade waren inzwischen in aller Munde. Als sie das letzte Mal mit Louis-Anatole unten in Rennes-les-Bains gewesen war, hatte sie die Atmosphäre dort als so unangenehm erlebt, dass sie beschlossen hatte, dem Ort auf absehbare Zeit fernzubleiben. Schweigen oder argwöhnische Blicke, wo man sie früher freundlich gegrüßt und angelächelt hatte. Sie wollte vor allen Dingen Louis-Anatole solchen Widerwärtigkeiten nicht ausgesetzt sehen.
    Léonie nahm die
fête nationale
zum Anlass für eine kurze Reise. Um den Jahrestag des Sturms auf die Bastille vor über einhundert Jahren zu feiern, sollte am 14 . Juli in der mittelalterlichen Zitadelle von Carcassonne ein Feuerwerk stattfinden. Seit jenem kurzen und schmerzlichen Aufenthalt mit Anatole und Isolde hatte Léonie keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt, doch ihrem Neffen zuliebe – es sollte eine nachträgliche Überraschung zu seinem fünften Geburtstag werden – schob sie ihre Bedenken beiseite.
    Sie war entschlossen, Isolde zum Mitkommen zu überreden. In letzter Zeit war es um den nervlichen Zustand ihrer Tante noch schlechter bestellt. Sie fühlte sich verfolgt, glaubte, vom anderen Ufer des Sees aus beobachtet zu werden, vermutete Gesichter im Wasser. Sie sah Rauch im Wald, selbst wenn nirgendwo ein Feuer brannte. Léonie wollte sie nicht für so viele Tage allein zurücklassen, auch nicht in Marietas erfahrener Obhut.
    »Bitte, Isolde«, flüsterte sie und streichelte ihre Hand. »Es würde Ihnen guttun, einmal eine Weile fort zu sein. Die Sonne im Gesicht zu spüren.« Sie drückte ihre Finger. »Es würde mir viel bedeuten. Und Louis-Anatole auch. Das wäre das schönste Geburtstagsgeschenk, das Sie ihm machen könnten. Kommen Sie doch mit, bitte.«
    Isolde sah sie mit ihren tiefgründigen grauen Augen an, die wirkten, als läge große Weisheit in ihnen und als sähen sie gleichzeitig nichts.
    »Wenn Sie es wünschen«, sagte sie mit ihrer silbrigen Stimme, »werde ich mitkommen.«
    Vor lauter Verblüffung schlang Léonie die Arme um Isolde, was diese erschreckte. Sie konnte spüren, wie mager Isolde unter der Kleidung und dem Korsett war, aber dachte nicht weiter darüber nach. Sie hätte niemals geglaubt, dass sie zustimmen würde, und war außer sich vor Freude. Vielleicht war es ein Zeichen dafür, dass ihre Tante endlich bereit war, in die Zukunft zu blicken, anfangen würde, ihren wunderbaren Sohn kennenzulernen.
     
    Es war eine kleine Reisegruppe, die mit dem Zug Richtung Carcassonne aufbrach.
    Marieta kümmerte sich um ihre Herrin. Es blieb Pascal überlassen, Louis-Anatole mit Soldatengeschichten zu unterhalten, den derzeitigen Großtaten der französischen Armee in Westafrika, in Dahomey und der Côte d’Ivoire. Pascal erzählte mit solchem Eifer von Wüsten und donnernden Wasserfällen und einer vergessenen Welt, verborgen auf einer geheimnisvollen Hochebene, dass Léonie der Verdacht beschlich, er könnte seine Schilderungen eher aus den Schriften von Monsieur Jules Verne entliehen haben als aus den Seiten der Zeitungen. Louis-Anatole wiederum unterhielt das Abteil mit Monsieur Baillards Erzählungen von den Rittern des Mittelalters. Die beiden erlebten daher eine zutiefst befriedigende und überaus blutrünstige Reise.
    Sie kamen am 14 . Juli gegen Mittag an und suchten sich Unterkünfte in der unteren Bastide, nahe der Kathedrale Saint-Michel und weit weg von dem Hotel, in dem Isolde, Léonie und Anatole sechs Jahre zuvor abgestiegen waren. Léonie verbrachte den Nachmittag damit, ihrem begeisterten und staunenden Neffen die Sehenswürdigkeiten zu zeigen, und erlaubte ihm, zu viel Eiscreme zu essen.
    Gegen fünf Uhr kehrten sie in ihre Unterkunft zurück, um sich auszuruhen. Léonie ging zu Isolde, die auf einer Chaiselongue am Fenster lag und über die Gärten des Boulevard Barbès blickte. Ihr wurde schwer ums Herz, als ihr klar wurde, dass Isolde nicht vorhatte, sich mit ihnen gemeinsam das Feuerwerk anzusehen.
    Léonie sagte nichts und hoffte, sich zu täuschen, doch als es Zeit wurde, sich für das abendliche
spectacle
hinauszubegeben, beteuerte Isolde, sie

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