Die achte Karte
steckte ihm die Zunge heraus. »Du Scheusal!«
Anatole wischte sich über den Schnurrbart, warf seine Serviette auf den Tisch, schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Alors, on y va.
Wir haben noch etwas Zeit. Lass uns die bescheidenen Vergnügungen von Couiza erkunden.«
Kapitel 21
∞
Paris
E in paar hundert Meilen weiter nördlich in Paris war Ruhe eingekehrt. Nach dem Trubel eines geschäftigen Morgens war die Nachmittagsluft bleiern von Staub und dem Geruch nach überreifem Obst und Gemüse. Die Knechte und Straßenhändler des 8 . Arrondissements waren fort. Die Milchwagen, Karren und Bettler waren weitergezogen und hatten den Abfall, den Bodensatz eines weiteren Tages zurückgelassen.
Die Wohnung der Familie Vernier in der Rue de Berlin lag still im bläulichen Licht des späten Nachmittags. Die Möbel waren in weiße Staubdecken gehüllt. Die hohen Fenster des Salons zur Straße hin waren geschlossen. Die gelben Chintzvorhänge waren zugezogen. Die geblümte, einst hochwertige Tapete war an den Stellen verblasst, wo das Sonnenlicht Tag für Tag die Farben ausgebleicht hatte. Staubpartikel schwebten über den wenigen noch unverdeckten Möbelstücken.
Auf dem Tisch ließen vergessene Rosen in einer Glasschale die Köpfe hängen, fast geruchlos. Ein anderer Geruch lag in der Luft, ein säuerlicher Geruch, der nicht hierhergehörte. Ein Hauch von Souk und türkischem Tabak und ein Aroma, das so weit im Landesinneren noch fremdartiger war, das der See, das in der grauen Kleidung des Mannes steckte, der jetzt schweigend zwischen den zwei Fenstern vor dem Kamin stand und das Porzellanzifferblatt der Sèvres-Uhr auf dem Sims verdeckte.
So stark und kräftig, wie er gebaut war, mit breiten Schultern und einer hohen Stirn, hatte er eher die Statur eines Abenteurers als eines Ästheten. Dunkle, gestutzte Augenbrauen wölbten sich über stechenden blauen Augen mit Pupillen, die so schwarz waren wie Kohlen.
Marguerite saß aufrecht auf einem der Mahagonistühle am Esstisch. Ihr rosa Negligé, das im Nacken von einer gelben Seidenschleife gehalten wurde, war über ihre vollkommenen weißen Schultern drapiert. Das Material fiel elegant über das gelbe Sitzpolster und die stoffbezogenen Armlehnen, wie für das Stillleben eines Malers. Nur der verängstigte Blick in ihren Augen erzählte eine andere Geschichte. Das und die Tatsache, dass ihre Arme in einem seltsamen Winkel nach hinten gebogen und mit dünnem Draht gefesselt waren.
Ein zweiter Mann, dessen kahlrasierter Schädel mit einem bösen Ausschlag aus Schorf und Blasen bedeckt war, stand hinter dem Stuhl Wache, wartete auf Anweisungen seines Herrn.
»Also, wo ist er?«, fragte dieser jetzt mit kalter Stimme.
Marguerite sah ihn an.
Sie erinnerte sich an das jähe Begehren, das sie zuvor in seiner Gegenwart empfunden hatte, und hasste ihn dafür. Von allen Männern, denen sie in ihrem Leben begegnet war, hatte nur ein anderer, ihr Ehemann Leo Vernier, die Macht besessen, ihre Gefühle so schlagartig und vehement zu entflammen.
»Sie waren im Restaurant«, sagte sie. »Chez Voisin.«
Er überging ihre Bemerkung. »Wo ist Vernier?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Marguerite erneut. »Ich gebe Ihnen mein Wort. Er führt sein eigenes Leben. Und manchmal bleibt er tagelang ohne jede Erklärung fort.«
»Ihr Sohn, ja. Aber Ihre Tochter kommt und geht nicht, wie es ihr gefällt, und schon gar nicht ohne Begleitung. Sie hat einen regelmäßigen Tagesablauf. Und doch ist auch sie nicht da.«
»Sie ist bei Bekannten.«
»Ist Vernier bei ihr?«
»Ich …«
Er ließ seine kalten Augen über die Staubdecken und leeren Schränke huschen.
»Wie lange soll die Wohnung leer bleiben?«, fragte er.
»Etwa vier Wochen. Übrigens, ich erwarte General Du Pont«, fügte sie hinzu, rang darum, ihre Stimme ruhig zu halten. »Er müsste jeden Moment hier sein, um mich abzuholen, und …«
Die Worte gingen in ihrem Schrei unter, als der Diener ihre Haare packte und ihr den Kopf nach hinten riss.
»Nein!«
Die Messerspitze drückte kalt gegen ihre Haut.
»Wenn Sie jetzt gehen«, presste sie zittrig hervor, »werde ich nichts sagen, ich gebe Ihnen mein Wort. Lassen Sie mich, gehen Sie.«
Der Mann streichelte ihr die Wange mit der Rückseite seine behandschuhten Finger.
»Marguerite, es wird niemand kommen. Das Klavier unten schweigt. Die Nachbarn von oben sind übers Wochenende aufs Land. Und was Ihr Mädchen und den Koch angeht, die habe ich selbst gehen sehen.
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