Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
er zu bemerken, dass ihr Gepäck bereits ausgeladen worden war. Er betrachtete ihren Begleiter.
    »Vielen Dank, M’sieur. Das war äußerst liebenswürdig.«
    »Keine Ursache. Das Vergnügen war ganz meinerseits, M’sieur …«
    »Vernier. Anatole Vernier. Und das ist meine Schwester Léonie.«
    »Charles Denarnaud, zu Ihren Diensten.« Er tippte sich an den Hut. »Quartieren Sie sich irgendwo in Couiza ein? Falls ja, wäre es mir eine Freude, Sie …«
    Wieder ertönte ein Pfiff.
    »En voiture!
Fahrgäste nach Quillan und Espéraza,
en voiture!«
    »Wir sollten zurücktreten«, sagte Léonie.
    »Nicht in Couiza selbst!«, antwortete Anatole dem Mann, wobei er fast schreien musste, um das Dröhnen der Lokomotive zu übertönen. »Aber in der Nähe. Rennes-les-Bains.«
    Denarnaud strahlte. »Mein Heimatort.«
    »Ausgezeichnet. Wir werden in der Domaine de la Cade wohnen. Kennen Sie das Anwesen?«
    Léonie starrte Anatole verwundert an. Erst hatte er von ihr äußerste Diskretion verlangt, und jetzt, gerade einmal drei Tage fort aus Paris, rieb er einem völlig Fremden bedenkenlos ihr Reiseziel unter die Nase.
    »Domaine de la Cade«, entgegnete Denarnaud zurückhaltend. »Ja, die ist mir bekannt.«
    Die Lokomotive stieß zischend einen Dampfschwall aus. Léonie trat nervös zurück, und Denarnaud stieg ein.
    »Ich möchte Ihnen noch einmal für Ihre Hilfsbereitschaft danken«, beteuerte Anatole.
    Denarnaud lehnte sich nach draußen. Die beiden Männer tauschten ihre Visitenkarten aus und schüttelten sich die Hände, während der Dampf den Bahnsteig verhüllte.
    Anatole trat von der Kante zurück. »Scheint ein recht netter Kerl zu sein.«
    Léonies Augen blitzten vor Zorn. »Ich dachte, wir wollten unsere Pläne für uns behalten«, gab sie zu bedenken, »und jetzt …«
    Anatole fiel ihr ins Wort. »Ich war bloß höflich.«
    Die Bahnhofsuhr schlug die volle Stunde.
    »Offenbar sind wir doch noch in Frankreich«, sagte Anatole, warf ihr dann einen Blick zu. »Ist irgendwas? Hab ich irgendwas getan? Oder nicht getan?«
    Léonie seufzte. »Ich bin gereizt, und mir ist heiß. Es war langweilig, mit niemandem reden zu können. Und dann hast du mich der Gnade dieses unangenehmen Mannes überlassen.«
    »Ach, so schlimm war Denarnaud doch gar nicht«, widersprach er und drückte ihre Hand. »Aber ich bitte trotzdem um Vergebung dafür, dass ich eingeschlafen bin, was für ein grässliches Verbrechen.«
    Léonie verzog das Gesicht.
    »Komm,
petite.
Wenn du erst einmal was gegessen und getrunken hast, fühlst du dich gleich wieder besser.«

Kapitel 20
    ∞
    A ls sie aus dem Schatten des Bahnhofsgebäudes traten, traf sie die Sonne mit voller Wucht. Braune Wolken aus Sand und Staub wehten ihnen ins Gesicht, aufgewirbelt von dem launischen Wind, der scheinbar aus allen Richtungen gleichzeitig kam. Léonie kämpfte mit dem Verschluss ihres neuen Sonnenschirms.
    Während Anatole dem Gepäckträger Anweisungen gab, betrachtete sie die Umgebung. Sie war noch nie so weit in den Süden gereist. Wenn sie überhaupt einmal das Umland von Paris verlassen hatte, dann höchstens bis nach Chartres oder, noch als Kind, für ein Picknick am Ufer der Marne. Das hier war ein anderes Frankreich. Léonie erkannte einige Straßenschilder und Reklameplakate für Aperitifs, Bohnerwachs und Hustensaft, aber es war eine fremde Welt.
    Vom Bahnhof gelangte man direkt auf eine belebte kleine Straße, die von ausladenden Linden gesäumt wurde. Frauen mit dunklem Teint und breiten wettergegerbten Gesichtern, Fuhrmänner und Eisenbahner, verwahrloste Kinder mit nackten Beinen und schmutzigen Füßen. Ein Mann in der kurzen Jacke eines Arbeiters, keine Weste, mit einem Laib Brot unter dem Arm. Ein anderer in einem schwarzen Anzug und mit der Kurzhaarfrisur eines Schullehrers. Ein Karren rumpelte vorbei, hoch beladen mit Holzkohle und Kleinholz. Es kam ihr so vor, als wäre sie in eine Szene in
Hoffmanns Erzählungen
von Offenbach geraten, wo noch die alten Sitten herrschten und die Zeit gleichsam stillstand.
    »Anscheinend gibt es ein ganz passables Restaurant auf der Avenue de Limoux«, sagte Anatole, der wieder an ihrer Seite auftauchte, eine Ausgabe der Lokalzeitung
La Dépêche de Toulouse
unter den Arm geklemmt. »Es gibt außerdem ein Telegrafenamt, einen Fernsprechapparat und eine Poststelle für postlagernde Briefe. Übrigens auch in Rennes-les-Bains, also sind wir wohl doch nicht völlig von der Zivilisation abgeschnitten.« Er zog eine

Weitere Kostenlose Bücher