Die achte Karte
es heute sieht, aber es war einmal die alte westgotische Hauptstadt des Gebiets, Rhedae.«
»Was hat zu seinem Niedergang geführt?«
»Karl der Große, der Kreuzzug gegen die Albigenser, Räuberbanden aus Spanien, die Pest, der unaufhaltsame und gnadenlose Gang der Geschichte. Heute ist es bloß noch ein vergessenes Bergdorf von vielen. Steht ganz im Schatten von Rennes-les-Bains.« Er stockte. »Wobei erwähnt werden muss, dass der Curé sich sehr für seine Gemeinde einsetzt. Ein interessanter Mann.«
Anatole beugte sich vor, um besser hören zu können. »Inwiefern?«
»Er ist sehr gebildet, offensichtlich ehrgeizig und steckt voller Energie. Viele Einheimische fragen sich, was der Grund für seine Entscheidung war, so nah bei seiner Heimat zu bleiben und sich in einer derart armen Gemeinde zu vergraben.«
»Vielleicht glaubt er, dass er hier am meisten bewirken kann?«
»Das Dorf liebt ihn jedenfalls. Er hat viel Gutes getan.«
»In praktischen Dingen oder lediglich in geistiger Hinsicht?«
»Sowohl als auch. Die Kirche Sainte Marie-Madeleine zum Beispiel war bloß noch eine Ruine, als er herkam. Es regnete durchs Dach, und Mäuse und Vögel und Bergkatzen hatten sich darin eingenistet. Doch im Sommer 1886 gewährte ihm die Mairie zweitausendfünfhundert Francs für Renovierungsarbeiten, hauptsächlich um den alten Altar zu ersetzen.«
Anatole zog die Augenbrauen hoch. »Eine stattliche Summe!«
Gabignaud nickte. »Ich weiß das nur vom Hörensagen. Der Curé ist ein überaus kultivierter Mann. Es heißt, es sind viele archäologisch bedeutsame Funde ans Licht gekommen, für die sich natürlich Ihr Onkel ungemein interessiert hat.«
»Zum Beispiel?«
»Ein historisches Altarbild, soviel ich weiß. Außerdem zwei westgotische Säulen und ein alter Grabstein – der Dalle des Chevaliers –, der angeblich entweder merowingischen Ursprungs sein soll oder ebenfalls aus der Zeit der Westgoten stammt. Da Lascombe sich sehr für diese Periode interessierte, hat er sich in der Frühphase der Renovierung in Rennes-le-Château sehr engagiert, was wiederum dazu führte, dass die Angelegenheit in Rennes-les-Bains mit Interesse verfolgt wurde.«
»Sie selbst scheinen auch einige historische Kenntnisse zu besitzen«, warf Léonie ein.
Gabignaud wurde vor Freude rot. »Ein Steckenpferd, Mademoiselle Vernier, mehr nicht.«
Anatole holte sein Zigarettenetui hervor. Der Doktor nahm dankend an. Anatole entzündete für sie beide ein Streichholz, dessen Flamme er mit der hohlen Hand schützte. »Und wie heißt dieser vorbildliche Priester?«, fragte er und blies dabei Rauch in die Luft.
»Saunière. Bérenger Saunière.«
Sie gelangten auf ein gerades Stück Straße, und sogleich liefen die Pferde schneller. Der Lärm wurde entsprechend stärker, was jede weitere Verständigung unmöglich machte. Léonie kam das nicht ganz ungelegen. Ihre Gedanken überschlugen sich, denn sie hatte das Gefühl, irgendwo in dem Wust von Gabignauds Erzählungen etwas Bedeutsames erfahren zu haben.
Aber was?
Nach einer kurzen Weile zügelte der Kutscher die Pferde und bog von der Hauptstraße ab in das Tal der Sals, so dass das Geschirr klirrte und die nicht entzündeten Laternen, die gegen die Seite der Kutsche schlugen, laut klapperten.
Léonie beugte sich möglichst weit hinaus und bewunderte entzückt die Schönheit der Landschaft, die spektakulären Ausblicke auf Himmel, Felsen und Wälder. Zwei verwitterte Vorposten, die sich als natürliche Gesteinsformationen entpuppten und nicht als Burgruinen, ragten wie gigantische Wächter über dem Tal auf. Hier reichte der alte Wald fast bis an den Straßenrand. Léonie hatte das Gefühl, an einen geheimen Ort vorzudringen, wie ein Entdecker in einem von Monsieur Rider Haggards Abenteuerromanen, der untergegangene afrikanische Reiche erkundet.
Jetzt begann die Straße sich anmutig zu winden, schlängelte sich in zahllosen Kurven am Flusslauf entlang. Es war wunderschön, ein Arkadien. Alles war satt, üppig und grün – olivgrün, meergrün, Buschwerk in der Farbe von Absinth. Die silbrige Unterseite der Blätter, die im Wind flirrten, schimmerte zwischen den dunkleren Tönen von Tannen und Eichen in der Sonne. Oberhalb der Baumgrenze erhoben sich die schroffen Konturen von Kuppen und Gipfeln, die uralten Silhouetten von Menhiren, Dolmen und natürlichen Skulpturen. Die Vorgeschichte des Gebietes war vor dem Betrachter ausgebreitet wie die Seiten eines Buches.
Léonie hörte die
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