Die achte Karte
Übersetzung von Monsieur Poe. Nichts von Madame Radcliffe oder Monsieur Le Fanu.
Eine langweilige Sammlung.
In der äußersten Ecke der Bibliothek war ein Erker mit Büchern zur Geschichte der Region, und sie nahm an, dass Anatole hier auf den kleinen Band von Monsieur Baillard gestoßen war. Sie merkte, wie ihre Aufmerksamkeit erwachte, als sie aus dem warmen, geräumigen Hauptbereich zwischen die engen, düsteren Regale trat. Die Luft im Erker war feucht und muffig und blieb ihr in der Kehle stecken. Ihre Augen glitten über die dichtgeschlossenen Reihen von Buchrücken und Einbänden, bis sie beim Buchstaben B ankamen. Es gab keine sichtbare Lücke. Verwundert zwängte sie das dünne Bändchen an der Stelle hinein, wo es ihrer Vermutung nach hingehörte. Nachdem das erledigt war, wandte sie sich zum Gehen.
Erst da bemerkte sie die drei oder vier Glasvitrinen hoch oben an der Wand rechts von der Tür, die vermutlich die kostbareren Bände beherbergten. An einer Messingschiene war eine kleine ausklappbare Schiebeleiter befestigt, die Léonie mit beiden Händen fasste, um dann mit aller Kraft an ihr zu ziehen. Die Leiter knarrte und ächzte, gab aber rasch nach. Sie schob sie an der Schiene entlang bis zur Mitte, klappte die Trittstufen aus und stieg nach oben. Der Taft ihrer Unterröcke raschelte und verfing sich zwischen ihren Beinen.
Auf der zweithöchsten Stufe blieb sie stehen. Sie stützte sich mit den Knien ab und spähte in die Vitrine. Es war so dunkel darin, dass sie beide Hände an die Glasscheibe legen musste, um die Augen gegen das Licht abzuschirmen, das durch die zwei hohen Fenster drang, erst dann konnte sie die Titel auf den Buchrücken entziffern.
Der erste lautete
Dogme et rituel de la haute magie
von Eliphas Lévi. Daneben stand ein Band mit dem Titel
Traité Méthodique de Science Occulte.
Auf dem Brett darüber waren Schriften von Papus, Court de Gébelin, Etteilla und MacGregor Mathers aufgereiht. Sie hatte diese Autoren noch nie gelesen, wusste aber, dass es sich um okkulte Schriftsteller handelte, die als subversiv galten. Ihre Namen tauchten regelmäßig in Zeitungs- und Journalkolumnen auf.
Léonie wollte gerade wieder hinuntersteigen, als ihr Blick auf einen großen, in schlichtes schwarzes Leder gebundenen Band fiel, der weniger auffällig und prätentiös wirkte und mit der Vorderseite nach vorne aufgestellt war. Auf dem Deckel stand der Name ihres Onkels in goldenem Prägedruck unter dem Titel:
Les Tarots.
Kapitel 35
∞
Paris
A ls sich das Morgengrauen dunstig und zögerlich über das Gebäude des Polizeikommissariats des 8 . Arrondissements in der Rue de Lisbonne legte, waren die Gemüter bereits überreizt.
Am Sonntag, den 20 . September, war kurz nach neun Uhr abends die Leiche einer Frau gefunden worden, die als Madame Marguerite Vernier identifiziert worden war. Ein Reporter vom
Petit Journal
hatte den Fund von einem der neuen öffentlichen Telefonapparate an der Rue de Berlin, Ecke Rue d’Amsterdam gemeldet.
Da die Verstorbene eine Liaison mit dem Kriegshelden General Du Pont gehabt hatte, war Präfekt Laboughe von seinem Landsitz zurückgerufen worden, um die Leitung der Ermittlungen zu übernehmen.
Äußerst übellaunig kam er durch das Vorzimmer marschiert und knallte einen Stapel Morgenzeitungen auf Inspektor Thourons Schreibtisch.
Carmen-Mord! Kriegsheld verhaftet! Liebesdrama endet mit tödlichen Messerstichen!
»Was hat das zu bedeuten?«, donnerte Laboughe.
Thouron stand auf und murmelte eine respektvolle Begrüßung, dann hob er, während Laboughes zorniger Blick ihm folgte, weitere Zeitungen von dem einzigen freien Stuhl in dem engen und stickigen Raum. Als das geschehen war, nahm der Präfekt seinen Seidenzylinder ab, setzte sich und stützte beide Hände auf seinen Gehstock. Die Holzlehne des Stuhls knarrte unter seinem beeindruckenden Gewicht, hielt aber stand.
»Nun, Thouron?«, sagte er auffordernd, sobald der Inspektor wieder Platz genommen hatte. »Woher hat die Presse die vielen Einzelheiten? Hat einer von Ihren Leuten eine lose Zunge?«
Inspektor Thouron machte ganz den Eindruck eines Mannes, der den Tagesanbruch erlebt hatte, ohne zuvor in den Genuss seines eigenen Bettes gekommen zu sein. Unter seinen Augen lagen dunkle graue Schatten, wie Halbmonde. Sein Schnauzer hing schlaff herab, und sein Kinn war von Bartstoppeln übersät.
»Das glaube ich nicht, Monsieur le Préfet«, sagte er. »Die Reporter waren schon da, als wir
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