Die achte Offenbarung
Zahl des Rades. Und jenes Rad, das sich endlos dreht, mahlt die Zahl zu Staub, jedes Korn nur ein Zehntel des vorigen. Die Körner aber sind zahlreicher als die Sterne des Himmels und mehr als die Sandkörner in der Wüste.
Es war so offensichtlich, dass er sich ziemlich dumm vorkam. Es passte alles: Das Rad, das sich endlos drehte und die Zahl zu Staub mahlte, so dass jedes Korn nur ein Zehntel des vorigen war – das wies eindeutig auf die Nachkommastellen hin, die man erhielt, wenn man Pi immer genauer berechnete. Da es sich um eine unendliche, nichtperiodische Dezimalzahl handelte, hatte sie natürlich auch mehr Nachkommastellen, als es Sterne am Himmel oder Sandkörner in der Wüste gab.
Doch wenn es wirklich die Zahl Pi war, auf die das Manuskript Bezug nahm, dann führte das zu abenteuerlichen, ja beängstigenden Schlussfolgerungen – vor allem, wenn man den nächsten Teil des Textes betrachtete, der Anweisungen enthielt, wie mit der Zahl zu verfahren war:
Von diesen muss er das Richtige benennen, denn es ist der Anfang, und die Folgenden sind Zahl in der Zahl, und sie sind Chaos und sind doch wohl geordnet, so wie die Welt scheinbar Chaos ist und doch von göttlicher Hand gestaltet. Jenes Korn aber liegt in dem Rechteck, das Länge und Breite der Kirche bilden, im Maße Roms.
Wenn Meles Vater recht hatte, dann bezog sich dieser Hinweis auf eine ganz bestimmte Nachkommastelle, die den Anfang einer Ziffernfolge bildete – einer scheinbar chaotischen Zufallsfolge, die jedoch »wohlgeordnet« war,weil sie sich aus einem strengen mathematischen Zusammenhang ergab. Der Text beschrieb auch genau, welche Ziffer die erste der Folge war: die Nachkommastelle nämlich, die sich aus dem Rechteck, also dem Produkt aus Länge und Breite des Speyerer Doms, gemessen in römischen Fuß, ergab.
»Darf ich den Zettel noch mal haben?«, bat Meles Vater.
Paulus reichte ihn ihm.
Er las mit gerunzelter Stirn. »Das ist allerdings merkwürdig«, sagte er.
»Was ist merkwürdig, Papa?«
»Wenn ich das hier richtig interpretiere, dann bezieht sich der Text auf eine Ziffernfolge, die in den Nachkommastellen von Pi verborgen ist.«
»Das ergibt doch einen Sinn«, behauptete Mele. »Diese Sache mit den Körnern, die ein Zehntel des vorigen sind …«
»Ja, schon. Allerdings … Ich weiß ja nicht genau, wie groß die Kirche ist, von der hier die Rede ist, aber wenn man Länge mal Breite nimmt, dann ergibt sich vermutlich eine Zahl in den Tausendern. Die Ziffernfolge müsste also bei der x-tausendsten Nachkommastelle von Pi beginnen.«
»Ja, und?«
»Herr Brenner hat gerade gesagt, dass das Manuskript vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammt. Damals war Pi nur auf ein paar hundert Stellen genau bekannt. Erst in den Sechzigerjahren hat man Pi auf mehrere tausend Stellen genau berechnen können – das war nur mit den damals leistungsfähigsten Computern möglich.«
Meles Augen leuchteten. »Dann ist das der Beweis!«, rief sie.
»Was für ein Beweis?«, fragte ihr Vater.
»Dass dieses Manuskript eine Botschaft aus der Zukunft enthält!«
Meles Vater betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Wieso denkst du, dass das Buch eine Botschaft aus der Zukunft enthält?« Paulus fiel auf, dass die Frage keine Kritik und auch kein Urteil über die Wahrscheinlichkeit dieser Behauptung enthielt. Ihr Vater gab Mele die Möglichkeit, ihre Sicht darzulegen, und war bereit, sie sich zumindest anzuhören.
»Hier steht es doch«, sagte seine Tochter und zeigte auf eine Stelle der Übersetzung. » Diese Ziffern wird erkennen, wer berufen ist, die Worte zu lesen, denn sie sind vor dem menschlichen Verstande verborgen, und nur die rechnenden Mühlen können das Korn mahlen. Paulus hatte schon vermutet, dass sich dieser Satz auf irgendeine Form von früher Rechenmaschine beziehen könnte. Aber jetzt ist klar, was mit den ›rechnenden Mühlen‹ tatsächlich gemeint ist: Computer!« Sie warf einen kurzen Blick zu Paulus, bevor sie fortfuhr: »Ich habe nicht alles genau verstanden, aber Paulus hat mit einem Freund gesprochen, einem Physiker, und der meinte, es sei prinzipiell möglich, Informationen aus der Zukunft in die Vergangenheit zu übermitteln, auch wenn man dadurch die Zukunft verändert. Irgendwie hat das mit Quantenphysik und Parallelwelten zu tun.«
»Mir scheint, ihr habt bisher noch keinen schlagenden Beweis dafür, dass das Buch tatsächlich Botschaften aus der Zukunft enthält«, erklärte ihr Vater.
Paulus war froh, dass er
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