Die achte Offenbarung
erzählt?
Aus dem gleichen Grund, aus dem sie Touristen Lügenmärchen von den gesprengten Türmen des Kölner Doms erzählte – einfach, weil es ihr Spaß machte. Er hätte nicht überrascht sein sollen.
Er hätte sich auch nicht so verletzt fühlen sollen.
Meles Vater löste sich von ihr. »Robert Kallen«, stellte er sich vor.
Paulus gab ihm die Hand. »Paulus Brenner.«
»Kommen Sie doch herein!«
Er führte sie in ein geschmackvoll modern eingerichtetes Wohnzimmer. Sie nahmen auf schlichten Ledersesseln Platz, von denen jeder einzelne vermutlich mehr gekostet hatte als Paulus’ gesamte Wohnungseinrichtung. Meles Vater stellte ungefragt eine Flasche gekühltes Mineralwasser und ein paar Gläser auf den Tisch.
»Schön, dass du dich mal wieder blicken lässt«, sagte er mit leicht vorwurfsvollem Tonfall. »Wo hast du in den letzten Monaten gesteckt?«
»Hier und da«, antwortete Mele.
»Was macht dein Studium?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Geht so.«
Er wandte sich an Paulus. »Und Sie? Studieren Sie auch Psychologie?«
Psychologie! Das passte. Paulus warf einen kurzen Blick zu Mele, den sie mit ihren unschuldigen großen Augen erwiderte. Wahrscheinlich betrachtete sie die Menschen in ihrer Umgebung mit ähnlichem Interesse wie ein Pharmazeut seine Versuchstiere.
»Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für mittelalterliche Geschichte der Universität Hamburg«, erklärte er und merkte, dass es ein bisschen förmlich klang, fast, als müsse er sich dafür entschuldigen.
»Wir brauchen deine Hilfe, Papa«, sagte Mele. »Paulus hat ein Manuskript aus dem Mittelalter bekommen, das seiner Großmutter gehörte. Es ist verschlüsselt. Wir haben schon einen Großteil des Textes entziffert, aber jetzt kommen wir nicht weiter. Vielleicht kannst du uns helfen.«
»Das klingt aufregend. Aber ich bin Architekt, kein Historiker. Und erst recht kein Kryptologe.«
»Du verstehst doch was von Mathematik. Ein Teil des Schlüssels scheint auf mathematischen Prinzipien zu beruhen. Vielleicht kannst du dir das mal ansehen.«
»Einverstanden. Aber danach will ich ein bisschen mehr darüber wissen, was meine Tochter so treibt.« Zu Paulus sagte er: »Als Meles Mutter noch lebte, wusste sie immer viel besser als ich zu deuten, was im Kopf meiner Tochter vorging. Für mich ist sie immer ein großes Rätsel geblieben.« Er lächelte.
Paulus merkte, dass ihm Meles Vater sympathisch war. Und auch Meles Verhalten erschien plötzlich in einem anderen Licht. Vielleicht hatten ihre Neigung, Scheinwelten aufzubauen, und ihre Bindungsängste etwas mit dem Verlust ihrer Mutter zu tun.
Gerade, als er das Manuskript hervorholen wollte, klingelte sein Handy. Er warf einen Blick auf das Display. Es war nicht Lieberman, wie er gehofft hatte. Stattdessen erkannteer Dirks Nummer. Was wollte der jetzt von ihm? Wie auch immer, Paulus hatte weder Zeit noch Lust, sich irgendwelche Tiraden anzuhören. Er drückte auf den Knopf, der das Gespräch ablehnte. Dann reichte er dem Architekten das Buch.
Der blätterte vorsichtig durch die Seiten. »Das ist wirklich bemerkenswert. Es wirkt sehr alt.«
»Ich vermute, dass es aus dem 19. Jahrhundert stammt«, sagte Paulus. Er erzählte, was sie bisher herausgefunden hatten. Die Verfolgung durch die mysteriösen Männer erwähnte er jedoch ebenso wenig wie die Auseinandersetzung mit Dirk. Er wollte Meles Vater nicht beunruhigen oder gar verärgern.
»Jetzt sind wir an einer Stelle, an der wir einfach nicht weiterkommen«, schloss er. Er zeigte Meles Vater den Zettel mit der Übersetzung.
Der Architekt las die Zeilen schweigend. »Pi«, sagte er nach einem Moment.
Paulus zuckte zusammen. »Was?«
»Diese Hinweise hier: Die Zahl, die sowohl in einem Brunnen als auch in einem Napf und in einem Rad zu finden ist, das klingt mir nach Pi, dem Verhältnis zwischen Umfang und Durchmesser eines Kreises. Diese Zahl hat die Mathematiker schon in der Antike fasziniert. Für uns Architekten ist sie eine wichtige Konstante. Ich kann sogar die ersten zehn Stellen immer noch auswendig: 3,1415926535. Es gibt Leute, die noch wesentlich mehr Ziffern aufsagen können. Der Rekord liegt bei über 100 000 Stellen, glaube ich.«
Paulus spürte ein merkwürdiges Gefühl im Nacken, wie von einem eisigen Hauch. Er nahm dem Architekten den Zettel aus der Hand und las noch einmal die
betreffende Textpassage.
Er wird die Zahl im Brunnen finden wie im Napf bei der Kirche des Bischofs. Denn es ist die
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