Die achte Offenbarung
Uhr
Paulus schreckte aus dem Schlaf hoch. Um ihn herum war es stockdunkel. Er brauchte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, wo er sich befand: im Gästezimmer von Meles Elternhaus. Die Fensterläden waren heruntergelassen, so dass kaum ein Lichtspalt hereindrang.
Er hörte leise Stimmen, dann etwas, das wie ein Schluchzen klang. War es das, was ihn geweckt hatte?
Er tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das grelle Licht blendete ihn. Er blinzelte ein paar Mal, bevor er in der Lage war, auf seiner Armbanduhr die Zeit abzulesen: halb fünf. Er hatte kaum mehr als eine Stunde geschlafen.
Er zog sich rasch an und verließ das Zimmer.
Mele und ihr Vater saßen in der Küche. Er hatte seinen Arm um sie gelegt. Mele barg das Gesicht in den Händen. Das Radio spielte leise einen Popsong, dessen Fröhlichkeit irgendwie unpassend wirkte.
»Was ist los?«, fragte Paulus.
Mele nahm die Hände vom Gesicht und sah ihn an. Sie war kreidebleich, ihre Augen gerötet. Sie öffnete den Mund, schien aber nicht die Kraft zu haben, etwas zu sagen. Stattdessen sagte ihr Vater mit seltsam ruhiger Stimme: »Lourdes. Es gab heute Nacht einen Anschlag. Siebzehn Tote.«
Paulus hatte das Gefühl, als schwanke der Boden unter ihm. Er musste sich am Türrahmen abstützen.
»Ich … ich konnte nicht schlafen«, sagte Mele mit zitternder Stimme. »Ich hatte so ein schreckliches Gefühl.Da habe ich das Radio angemacht und … Nachrichten gehört …«
Ein Gedanke machte sich in Paulus’ Kopf breit, überlagerte noch die Verwirrung und den Schrecken: Er hätte es verhindern können! Wenn er ein bisschen schneller mit der Entzifferung gewesen wäre … wenn er das Manuskript sofort der Polizei übergeben hätte … Siebzehn Tote! Siebzehn Menschen, die gestorben waren, weil er die Behörden nicht rechzeitig gewarnt hatte, obwohl der Anschlag im Manuskript präzise vorhergesagt worden war.
Er setzte sich an den Küchentisch. Sein Kopf fühlte sich ausgehöhlt an, unbrauchbar für klare Gedanken.
Eine Zeitlang saßen sie einfach nur stumm da und versuchten, das unfassbare Geschehen zu verarbeiten. Schließlich sagte Mele: »Und was machen wir jetzt?«
Damit begann eine intensive Diskussion. Während draußen die Sonne aufging und ein ganz normaler Samstag anbrach, tauschten sie zu dritt Argumente aus, entwickelten Ideen und verwarfen sie wieder. Das Gespräch verlief in einer seltsam sachlichen Atmosphäre, fast als sei dies ein rein theoretisches Problem. Vielleicht war das eine natürliche Reaktion auf den Schock – der Schmerz, die Angst würden später kommen.
Das Manuskript ließ keinen Zweifel daran, was getan werden musste, um die Katastrophe zu verhindern:
Wenn der Drache den Ort der Heilung schändet und das Blut der Gläubigen die Grotte der Heiligen Jungfrau besudelt, muss binnen sieben Tagen das Himmelsfeuer die Stadt verbrennen, die ihren König verjagte. Geschieht dies aber nicht, so ist alle Hoffnung verloren, und der letzte Tag ist nah.
Ihnen blieben sieben Tage, um irgendjemanden mit ausreichenden Entscheidungsbefugnissen davon zu überzeugen, im Besitz eines Manuskripts aus dem Mittelalter zu sein, das die Zukunft vorhersagte. Sieben Tage, um ihn dazu zu bringen, eine Entscheidung mit verheerenden Konsequenzen zu treffen.
Der Text beschrieb offenbar als einzige Lösung einen Nuklearangriff auf Teheran, die Stadt, die ihren »König« Schah Reza Pahlavi im Jahr 1979 verjagt hatte. Auch eine andere Textstelle wies darauf hin: Die Pestilenz wird aus dem Glase kommen, das im persischen Reich steht.
Aber war das wirklich notwendig? Ein Nuklearangriff auf Teheran würde den ganzen Mittleren Osten ins Chaos stürzen, wahrscheinlich einen verheerenden Krieg auslösen. Millionen Unschuldige würden sterben. Konnte man einen solchen Präventivschlag verantworten, nur weil er in einer Prophezeiung als Lösung empfohlen wurde?
Paulus, Mele und ihr Vater waren sich schließlich einig, dass sie selbst eine Entscheidung von solcher Tragweite nicht treffen konnten. Sie mussten dafür sorgen, dass die richtigen Leute von dem Manuskript erfuhren und es ernst nahmen – und zwar so schnell wie möglich.
Ein Einschalten der deutschen Polizei erschien wenig aussichtsreich. Die Behörden würden die Sache erst mal gründlich prüfen. Auf dem Weg durch die bürokratischen Instanzen waren sieben Tage gar nichts. Bis endlich ein ranghoher Entscheider das Manuskript in die Hände bekam und die Tragweite begriff, wäre es längst
Weitere Kostenlose Bücher