Die achte Offenbarung
Droge die Religion doch war!
Der Priester fuhr mit seinem Sermon fort, und Jimmy wurde von einer seltsamen Stimmung der Erwartung ergriffen, so als müsse im nächsten Moment etwas Wunderbares geschehen.
Plötzlich hörte er Rufe hinter sich, einen lauten Knall, dann noch einen. Der Priester stockte in seiner Predigt. Seine Augen weiteten sich, als er über die Köpfe der Menge hinwegblickte. Jimmy drehte sich verwirrt um wie die meisten Menschen in seiner Nähe, konnte jedoch nichts sehen. Ein seltsames, zischendes Geräusch erklang. Über sich sah er einen leuchtenden Streifen wie von einer Silvesterrakete, dann explodierte etwas direkt neben ihm. Er wurde zu Boden geschleudert.
Einen Moment lang war er blind und taub. Erst allmählich kehrten seine Sinne zurück. Um ihn herum Schreie, Schluchzen, dann wieder mehrfach ein dumpfer Knall.
Endlich begriff er. Jemand griff die Versammlung der Gläubigen an! Terroristen!
Er rappelte sich auf. Seine linke Hand fühlte sich feucht an, aber er achtete nicht darauf. Sein einziger Gedanke war, dass er Grandma hier herausbringen musste.
Um ihn herum herrschte Chaos. Aus den ordentlich aufgereihten Kerzen war eine brennende, qualmende Masse geworden. Der kleine Altar stand in Flammen. Von der berühmten Marienstatue über dem Eingang der Grotte war nur noch der Unterleib vorhanden. Der Priester, der eben noch den Frieden auf Erden heraufbeschworen hatte, lag zu ihren Füßen auf dem Rücken. Sein weißes Gewand war voller dunkler Flecken. Viele Rollstühle waren umgefallen. Ihre Insassen humpelten oder krochen herum. Einige lagen reglos da.
Jimmy packte Grandmas Rollstuhl, der noch stand, und schob ihn so schnell er konnte hinter der Menschenmenge her, die auf den großen Platz vor der Kathedrale flüchtete.
Wieder krachten Schüsse. Er blieb abrupt stehen. Fast hätte er sich hinter den Rollstuhl geduckt, bevor ihm klar wurde, dass er dann seine eigene Großmutter als lebendigen Schutzschild benutzt hätte.
Er blickte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. An der Mauer, die den Platz vor der Grotte von dem kleinen Fluss Gave de Pau trennte, erkannte er undeutlich eine Gestalt. Sie trug einen hautengen dunklen Anzug, der im schwachen Licht zu glänzen schien. In der Hand hielt sie ein Maschinengewehr, mit dem sie wiederholt Schüsse in die Luft feuerte.
Offenbar ging es den Terroristen mehr darum, Angst und Schrecken zu verbreiten, als tatsächlich Menschen zu töten. Trotzdem lagen überall reglose Körper herum.
Die Gestalt senkte das Gewehr. Jimmy merkte, dass er direkt in ihrem Schussfeld stand. Einen Moment lang war er sicher, dass der Terrorist auf ihn anlegen und sein Lebenin diesem Moment beenden würde. Doch stattdessen sprang er mit einem Satz über die Mauer.
Verblüfft starrte Jimmy eine Sekunde auf die Stelle, an der der Mann eben noch gestanden hatte. Dann begriff er, was er gesehen hatte: Der enge schwarze Anzug war aus Neopren. Der oder die Terroristen waren durch den Fluss gekommen.
Allmählich klangen die Schreie ab und wurden durch Schluchzen und klagende Stimmen ersetzt. Jimmy beugte sich über den Rollstuhl. »Es ist vorbei, Grandma!«, sagte er. »Sie sind weg!«
Grandma antwortete nicht. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gesichtszüge entspannt. Wie hatte sie bei dem unglaublichen Krach schlafen können?
Er rüttelte sanft ihre Schulter. »Grandma?«
Keine Reaktion.
Eine eisige Klammer legte sich um sein Herz. Er suchte ihren Körper ab, doch da waren keine Anzeichen einer Verletzung.
Er tastete ohne große Hoffnung nach ihrem Puls. Dabei bemerkte er, dass seine Hand voller Blut war. War es sein eigenes? Er spürte einen leichten Schmerz in der linken Seite und entdeckte, dass ein Splitter sein Hemd zerfetzt und einen tiefen Schnitt in seine Hüfte gerissen hatte. Egal, das war nur ein Kratzer.
Immer noch suchte er Grandmas Puls.
Nichts.
Verzweifelt blickte er sich nach einem Arzt um. Dann wurde ihm klar, dass es hier jede Menge Menschen gab, die die verfügbare Hilfe dringender brauchten als Grandma. Der Schock musste ihr geschwächtes Herz überlastet haben. Sie hatte ja ohnehin nur noch wenige Monate zu leben gehabt.
Jimmy betrachtete den entspannten Ausdruck ihres Gesichts. Vielleicht war sie ja friedlich eingeschlafen, bevor die Terroristen angegriffen hatten. Er klammerte sich an diesen Gedanken, als er den Rollstuhl langsam in die Richtung schob, in der die Blaulichter blinkten.
36.
Düsseldorf, Samstag 04:27
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