Die achte Offenbarung
Monate überprüfen, indem wir notfalls jeden einzelnen Tag eingeben«, sagte Mele.
Paulus stimmte ihr zu. Er öffnete die Internetseite, auf der man die Sternkonstellation für jedes beliebige Datum ablesen konnte.
Als sich die Seite aufbaute, erstarrte er.
»Was ist?«, fragte Mele. »Was hast du?«
Er wies auf die Symbole, die am oberen Bildschirmrandangegeben waren – die Planetenkonstellationen des jeweiligen Tags. Obwohl er noch kein Datum eingegeben hatte, stimmte die Konstellation exakt mit der im Manuskript überein.
»Der Tag, der im Text angegeben ist«, sagte er mit zitternder Stimme, »ist heute.«
35.
Lourdes, Samstag 00:15 Uhr
Umringt von Hunderten von Gläubigen, kam sich Jimmy Farrell vor wie jemand, der sich auf eine Party eingeschlichen hatte, ohne eingeladen zu sein.
Die Atmosphäre war feierlich. Die Grotte von Massabielle glänzte im Licht Hunderter Kerzen. In ihrem flackernden Licht wirkte die Statue der Maria fast lebendig – die Falten ihres Gewandes schienen sich sanft im Wind zu bewegen, und ihr Mund schien sich zu einem milden Lächeln zu verziehen. Auf dem Felsen über der Grotte thronte die Kathedrale, die im Licht der Scheinwerfer den Eindruck machte, als würde sie schweben. Selbst die Worte des Priesters, die durch die Felsen zurückgeworfen wurden, hatten an diesem Ort eine ungewöhnliche Kraft.
Er sah sich verstohlen um. Da Grandma in einem dieser merkwürdigen dreirädrigen Rollstühle saß, die man hier ausleihen konnte, hatte man sie weit vorgelassen bis nah an den Eingang der Grotte. Die Augen der Menschen um ihn herum glänzten. Man konnte die Hoffnung darin sehen, die Sehnsucht, die Entrückung, den Trost. Er hätte gern ebenso empfunden wie sie.
Jimmy stellte überrascht fest, dass er Gott vermisste. Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, an einen gütigen Schöpfer zu glauben: das angenehme Gefühl, dass da jemand war, der einen beschützte, einem zuhörte, am Ende irgendwie für Gerechtigkeit sorgte. Das Universum hatte einen Sinn gehabt, auch wenn Jimmy ihn nicht verstand.
Dann war Mom gestorben, und die Illusion war zerplatztwie ein bunter Luftballon, den man an eine Kerze hält.
Sie war in der Küche zusammengesackt, während sie Kartoffeln geschält hatte, einfach so. In einer Sekunde war sie noch die launische Mom gewesen, die nervende Mom, die alberne Mom, die mit ihren 45 Jahren immer noch nicht erwachsen zu sein schien. In der nächsten war sie nur noch ein lebloser Körper. Gehirnschlag, hatten die Ärzte diagnostiziert. Ein Blutgerinnsel, das sich unbemerkt gebildet hatte. So etwas kam vor – in einer Welt, in der kein Allmächtiger auf einen aufpasste.
Zuerst hatte er Grandma dafür verabscheut, dass sie an ihrem Glauben festhielt, Moms Tod sogar mit Gottes Willen zu begründen versuchte. Doch irgendwann hatte er begriffen, dass der Schmerz für sie, die ihre Tochter verloren hatte, ebenso groß war wie für ihn. Und er hatte gesehen, dass der Glaube allemal ein besseres Antidepressivum war als der Alkohol, der seinen stolzen, klugen Vater in ein jämmerliches arbeitsloses Wrack verwandelt hatte.
Religion sei Opium für das Volk, hatte Karl Marx behauptet. Er hatte recht gehabt. Und manchmal war es okay, ein Schmerzmittel zu nehmen. Nur wirkte die Droge leider nicht bei jedem.
Jetzt waren sie hier, und Jimmy sehnte sich nach dem guten, warmen Gefühl zurück, das der Glaube ihm einst gegeben hatte. Doch sosehr er es sich auch wünschte, es war ihm unmöglich, zu Gott zurückzufinden – ebenso wenig, wie er sich dazu hätte bringen können, wieder an den Weihnachtsmann zu glauben.
Der Glaube seiner Großmutter dagegen war unerschütterlich. Sie hatte sich zu ihrem 75. Geburtstag von Jimmy gewünscht, dass sie beide diese Wallfahrt gemeinsammachten. Jimmy hatte kurz zuvor von seiner Tante erfahren, dass Grandma Krebs im fortgeschrittenen Stadium hatte, und so hatte er sofort zugestimmt. Natürlich glaubte er nicht an Wunderheilungen, aber er wusste, dass die Psychologie bei Krankheiten wie Krebs eine wichtige Rolle spielte.
Doch schon auf dem Hinflug von Heathrow nach Toulouse hatte ihm Grandma offenbart, dass sie nicht wegen ihrer Krankheit hier war. Sie habe sich immer vorgenommen, den Ort der berühmten Marienerscheinungen einmal zu besuchen, und wolle das nun erledigen, bevor es zu spät war. Sie rechne nicht mit ihrer Heilung, sie hoffe nicht einmal darauf. Sie habe keine Angst vor dem Tod, behauptete sie.
Was für eine wunderbare
Weitere Kostenlose Bücher