Die achte Offenbarung
ungeheuer schwer, sich auf das Thema – die Entwicklung des Kreditwesens im 15. Jahrhundert – zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Er stellte sich vor, wie die Terroristen gerade jetzt dabei waren, denAnschlag vorzubereiten, wie sie in ihrem Labor in Teheran die tödlichen Keime züchteten, wie sie die beste Strategie zur Freisetzung des Virus diskutierten. Dann dachte er daran, dass vielleicht irgendwo in Amerika bereits die Vorbereitungen für den Abschuss einer Atomrakete getroffen wurden. Und immer wieder musste er an Mele denken, an ihre glasigen Augen, als sie sich von ihm verabschiedet hatte, an ihre enttäuschte Stimme gestern am Telefon.
Er ging wie immer mit den Kollegen in der Uni-Mensa essen, doch er hatte keinen Appetit. Über ihre lahmen Historiker-Scherze konnte er nicht lachen.
»Du siehst blass aus«, meinte Ralf, ein Doktorand, der sich auf die Geschichte Hamburgs spezialisiert hatte. »Bist du okay? Nicht, dass du uns noch einen Virus ins Institut schleppst!«
Bei dem Wort Virus verkrampfte sich Paulus innerlich. »Mir geht es gut«, sagte er.
Am Nachmittag ertappte er sich gerade dabei, dass er denselben Satz in Degenharts Vorlesungsskript zum vierten Mal las, als das Telefon klingelte. »Du hast Besuch«, verkündete Daisy.
Milde verwundert ging Paulus zum Vorzimmer des Instituts. Wahrscheinlich war es einer der Diplomanden, die er betreute, mit einer Frage.
In der Tür zum Vorzimmer blieb er wie angewurzelt stehen. »Mele!«
Sie blickte ihn fast ein wenig schüchtern an. »Ich hoffe, ich störe nicht.«
Mit zwei Schritten war er bei ihr und drückte sie an sich.
»Ich hab es nicht ausgehalten ohne dich«, flüsterte sie.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, erwiderte er. Dann küsste er sie lange, ohne sich darum zu kümmern,was Degenharts Assistentin von dieser Begrüßung halten mochte.
Er wandte sich an Daisy. »Ich gehe nach Hause und arbeite dort weiter. Wenn was ist, ruf mich bitte auf dem Handy an.«
Daisy warf ihm einen Blick zu, in dem ein stummer Vorwurf lag, aber sie nickte. »Okay.«
Sie schlenderten zu Paulus’ Wohnung. Ein leichter Nieselregen benetzte ihre Gesichter, doch Paulus bemerkte es kaum. Er fühlte sich seltsam leicht und hatte den Eindruck, bei jedem Schritt ein wenig abzuheben wie ein Astronaut auf dem Mond. Mele war gekommen! Er wusste jetzt, dass es albern von ihm gewesen war, sich zurückzuhalten. Er hatte sich über beide Ohren in sie verliebt. Und sie schien ähnlich für ihn zu empfinden.
Oder war sie nur hier, weil sie Trost suchte und ihre Angst vor den bevorstehenden Ereignissen mit niemandem sonst teilen konnte? Der Gedanke versetzte ihn beinahe in Panik.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte sie, wie um seine Befürchtungen zu bestätigen. »Ich muss immerzu daran denken, was geschehen wird, wenn die Amerikaner uns glauben. Denkst du, sie werden tatsächlich eine Atombombe einsetzen?«
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass sie einen anderen Weg finden werden.«
»Aber du glaubst nicht wirklich daran, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Das Manuskript war in dieser Hinsicht ziemlich eindeutig. Wir müssen annehmen, dass die Leute aus der Zukunft einen guten Grund haben werden, vom ›Himmelsfeuer‹ zu sprechen, das die Stadt verbrennen muss.«
Als Paulus die Haustür aufschloss, kam ihm die alteFrau Zacharias entgegen. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, hatte einen Hut in derselben Farbe auf und einen kleinen Koffer in der Hand.
Paulus seufzte. Er hatte anderes vorgehabt, als sich ausgerechnet jetzt um die alte Dame zu kümmern.
»Hallo, Herr Brenner«, sagte Frau Zacharias. »Wer ist denn die hübsche junge Dame an Ihrer Seite?« Sie zwinkerte.
Paulus war die Situation ein bisschen peinlich, aber Mele lächelte nur. Sie ging auf seine Nachbarin zu und gab ihr die Hand. »Ich bin Mele.«
»Einen sehr charmanten jungen Freund haben Sie da. Wissen Sie, früher, als ich meinen Franz kennengelernt habe, da war ich auch mal so hübsch wie Sie. Fast jedenfalls. Ich glaube, der Herr Brenner hätte mir damals auch gefallen.« Sie grinste verschwörerisch. »Passen Sie mir gut auf ihn auf, ja?«
Mele nickte ernst. »Das werde ich.«
»Jetzt gehen wir aber wieder in Ihre Wohnung zurück, Frau Zacharias«, sagte Paulus.
Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Aber nein, wo denken Sie hin? Ich fahre mit meiner Tochter für ein paar Tage nach Sylt. Das Taxi muss gleich da sein.«
»Frau Zacharias, ich fürchte …«,
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