Die achte Offenbarung
herzlich eingeladen, mit nach Düsseldorf zu kommen und bei uns zu wohnen, so lange Sie wollen.«
»Vielen Dank«, erwiderte Paulus, »aber ich war jetzt eine Woche lang nicht zu Hause und muss mich um ein paar Dinge kümmern.«
»Wie Sie meinen. Vielleicht kommen Sie uns ja bald mal besuchen.«
»Das werde ich!«
Mele umarmte Paulus zum Abschied. Als sie sich von ihm löste, hatte sie wieder Tränen in den Augen. »Melde dich bitte, ja? Ich … ich weiß nicht, wie ich das alles ohne dich überstanden hätte.«
Paulus lächelte schief. »Ohne mich würdest du jetzt friedlich mit Dirk in der WG sitzen oder Touristen irgendeinen Quatsch über den Kölner Dom erzählen.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Ich … ich bin trotzdem froh, dass ich dich getroffen habe!«
Er küsste sie auf den Mund, nur leicht, aber es war doch mehr als ein Kuss unter Freunden. Dann löste er sich von ihr, bevor ihn seine Gefühle überwältigen konnten. »Ich melde mich. Und … danke, dass du mir geholfen hast!«
Sie lächelte nicht mehr. »Hatte ich denn eine Wahl?«
»Man hat immer eine Wahl«, erwiderte Paulus und fragte sich in diesem Moment, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihre Einladung abzulehnen. Doch jetzt war es zu spät.
»Bis bald«, sagte Mele und ging mit ihrem Vater in Richtung Parkhaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Paulus ging zu Fuß in Richtung des Parkhauses in der Friedrichstraße, in dem immer noch der zerbeulte Mietwagen stand. Dabei kam er am Holocaust-Mahnmal vorbei. Einem Impuls folgend, wanderte er zwischen den Stelen hindurch. Die engen Gänge zwischen den unterschiedlich hohen, grauen Blöcken erzeugten ein seltsames Gefühl der Desorientierung und Beklemmung. Meles Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf: Wenn Millionen Menschen sterben und wir sind schuld …
Auf der Fahrt nach Hamburg sagte er sich immer wieder, dass er keine Wahl gehabt hatte, dass es nicht an ihm lag, zu entscheiden, was getan werden musste, dass er das einzig Richtige getan hatte, indem er die Anweisungen des Manuskripts befolgt hatte. Doch die Beklemmung wollte nicht weichen.
Wenn er doch mit Mele nach Düsseldorf gefahren wäre! Dann wäre er mit seinen Zweifeln und Sorgen wenigstens nicht allein gewesen. Er hatte ihr gegenüber behauptet, sich um einige Dinge kümmern zu müssen, aber morgen wieder ganz normal ins Institut zu gehen und mit gelangweiltenStudenten Seminare abzuhalten oder an irgendeinem Artikel für seinen Chef zu schreiben, erschien ihm angesichts der Ereignisse absurd. Wie sollte er den beschaulichen Institutsroutinen folgen, während in den Konferenzräumen des Pentagons Militärstrategen planten, eine Millionenstadt zu vernichten?
Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, ich würde noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen, hatte angeblich Martin Luther gesagt. Paulus wusste, dass das Zitat falsch war, aber der Reformator hatte wohl tatsächlich diese Art Gottvertrauen besessen. Paulus allerdings hatte es nicht. Er hatte das Gefühl, die letzten Tage einer vergleichsweise friedlichen Periode der Menschheit zu erleben. So oder so würde im Laufe der nächsten Woche etwas Schreckliches geschehen.
Immerhin gab es einen Lichtblick: Die Menschen der Zukunft würden einen Weg finden, um mit der Vergangenheit in Kontakt zu treten. Sie würden die Grenzen der Zeit überwinden. Was für eine atemberaubende Vorstellung!
Er fasste den Entschluss, alles über die Theorie von Zeitreisen zusammentragen, was er finden konnte. Vielleicht entdeckte er einen Hinweis darauf, auf welche Weise die Überlebenden die Botschaft in die Vergangenheit schicken würden. Er wusste jetzt immerhin, dass es möglich war, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie. Er würde Olaf anrufen und ihn um Hilfe bitten.
Er gab den Mietwagen am Hauptbahnhof ab. Mit gelangweilter Professionalität füllte ein Mitarbeiter der Mietwagenstation einen Schadensbericht aus, den Paulus unterschrieb. Der Mann schien sich nicht einmal ernsthaft dafür zu interessieren, wie genau die Beulen entstanden waren, und notierte lediglich »Schaden beim Einparken«.
Als Paulus seine Wohnung betrat, kam sie ihm seltsam fremd vor. War es erst eine Woche her, dass er zuletzt hier gewesen war?
Er rief Olaf an, doch der war nicht zu erreichen. Also ging er in ein Internetcafé und begann, selbst zu recherchieren. Es gab Dutzende Foren und Blogs, in denen über Zeitreisen diskutiert wurde – meistens waren es Science-Fiction-Fans, die sich über die
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