Die achte Offenbarung
haben. Vielleicht hatte er dabei zu den Königen über ihm aufgesehen und dann seine Vision gehabt. Paulus setzte sich, doch er konnte weder in den Fenstern selbst noch an den Wänden in ihrer Nähe eine Inschrift erkennen.
Nach einer Weile stand er auf und wanderte durch die Kathedrale, auf der Suche nach etwas, das Hermo von Lomersheim als Schlüsselwort gedient haben mochte. Erschwert wurde das durch den Umstand, dass der Dom heute nicht mehr im selben Zustand war wie im 15. Jahrhundert.Vieles war erneuert, restauriert oder erst lange nach Hermos Tod hinzugefügt worden. Im Südquerhaus befand sich beispielsweise ein großes Fenster, das erst vor einigen Jahren von dem Künstler Gerhard Richter gestaltet worden war. Es bestand aus bunten, quadratischen Glasbausteinen, die offenbar zufällig angeordnet worden waren, so dass es ein wenig aussah wie das Pixelgewirr auf einem Computerbildschirm. Dennoch fügte sich das moderne Fenster auf eigentümliche Weise harmonisch in das Gesamtbild ein.
Es war durchaus möglich, dass die Inschrift, auf die sich der Mönch bezogen hatte, nicht mehr existierte. Dann würde Paulus nichts anderes übrigbleiben, als den Code mit einer leistungsfähigen Software zu attackieren. Doch so schnell wollte er sich nicht geschlagen geben. Also wanderte er durch die Gänge und versuchte abzuschätzen, ob die Dinge, die er sah, auch Hermo gesehen haben konnte.
Er stieß auf ein kunstvolles rundes Fußbodenmosaik, das einen Bischof zeigte, der ein großes mittelalterliches Gebäude in den Händen hielt – der romanischen Architektur nach zu urteilen ein Modell des alten Doms, der bis ins 12. Jahrhundert an dieser Stelle gestanden hatte. Um den Bischof herum liefen mehrere kreisförmige Inschriften. In einem äußeren Kranz von Kreisen waren Namen angebracht, die jeweils mit einem stilisierten Bischofsstab markiert waren. Offenbar eine Aufzählung der Erzbischöfe von Köln, insgesamt ungefähr dreißig Namen, die eine Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten umfassten. Enttäuscht wandte sich Paulus ab. Das Mosaik war erst im 19. Jahrhundert entstanden.
Im Zentrum des Doms war auf einem Podest, umhüllt von Panzerglas, der wertvollste Schatz zu besichtigen: dergoldene Dreikönigenschrein, in dem angeblich die Gebeine der Heiligen Drei Könige aufbewahrt wurden. Er war über zwei Meter lang, anderthalb Meter hoch und hatte die gestufte Form eines Kirchenschiffs. Er war mit mehr als siebzig kunstvoll gearbeiteten Figuren besetzt – die größte und bedeutendste Goldschmiedearbeit des europäischen Mittelalters. Dies war das eigentliche Ziel der Pilger jener Zeit gewesen.
Als Paulus sich den Schrein genauer ansah, entdeckte er darauf eine Inschrift – und dann noch eine und noch eine. Hunderte Wörter in Latein umrahmten die kunstvollen Figuren, liefen entlang der Kanten des Schreins. Sorgfältig notierte er sich die Texte.
Je länger er suchte, desto mehr Texte fand er. Sie befanden sich in Glasmalereien, auf Grabplatten, in Fußbodenmosaiken. Bei manchen war er sich sicher, dass sie aus dem Mittelalter stammten, bei anderen hatte er Zweifel. Doch je mehr Wörter er in sein Notizbuch kritzelte, desto weiter entfernte er sich von seinem eigentlichen Ziel: das eine Schlüsselwort zu identifizieren, das Hermo von Lomersheim benutzt hatte.
Nach fast zwei Stunden hatte Paulus mehrere Seiten seines Notizbuchs vollgeschrieben und das Gefühl, alles Wesentliche erfasst zu haben. Seine Arbeit hier war getan. Es war Zeit, nach Hamburg zurückzukehren.
Er ging zum Ausgang des Doms, steckte in einem Anflug von Dankbarkeit einen Zehn-Euro-Schein in die Spendenbox für den Erhalt des Doms und sah sich mit einem gewissen Bedauern noch einmal um. Die Könige schienen aus ihrer hohen Position huldvoll auf ihn herabzublicken, wie sie es seit siebenhundert Jahren getan hatten.
Draußen empfingen ihn gleißende Helligkeit, Wärmeund das aufdringliche Lärmen der modernen Welt, die nach zwei Stunden in der ehrfürchtig gedämpften Atmosphäre des Doms in unangenehmer Intensität auf ihn einstürmten. Er blieb einen Moment stehen, um sich wieder ans Hier und Jetzt zu gewöhnen. Er fühlte sich, als habe er gerade eine Zeitreise hinter sich.
In der Nähe des Eingangs stand eine kleine Gruppe von asiatischen Touristen. Sie blickten zu den gewaltigen Türmen empor, während sie andächtig den Worten einer schlanken, jungen Frau mit kurzen blonden Haaren lauschten: »… but when they finished the towers, they
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