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Die achte Offenbarung

Die achte Offenbarung

Titel: Die achte Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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dem kleinen Balkon, auf dem er im Sommer gern frühstückte, war weit geöffnet. Er hatte sie wie jeden Abend offen stehen lassen, um die kühle Nachtluft in die Wohnung zu lassen. Er schalt sich selbst für seinen Leichtsinn und schloss sie. Dann ging er wieder ins Bett.
    Er wälzte sich noch eine Weile hin und her, dann gab er den Versuch, wieder einzuschlafen, auf. Er machte das Licht an und sah auf seine Armbanduhr. Viertel nach fünf. Wann fuhr der erste Zug nach Köln? Sein altertümliches Handy besaß keinen Internetbrowser, also rief er die Bahnauskunft an. Der Computer teilte ihm mit freundlicher Kunststimme mit, dass er um kurz nach sechs mit dem ICE fahren konnte. Also stand er auf, duschte, packteseine Aufzeichnungen und das Buch in die Laptoptasche und machte sich auf den Weg zum Bahnhof.
    Am frühen Sonntagmorgen war der Hauptbahnhof nicht so voll wie sonst, aber es waren doch überraschend viele Menschen schon um diese Zeit unterwegs. Er kaufte sich ein Ticket am Fahrkartenautomaten und stieg in einen Großraumwagen des ICE.
    Auf der Strecke zwischen Hamburg und Bremen nickte Paulus ein. Als er aufwachte und auf den Nebenplatz blickte, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Anstelle seiner Tasche, die er dort abgestellt hatte, saß plötzlich eine etwa vierzigjährige Frau auf dem Platz.
    »Ich habe Ihre Tasche nach oben in die Gepäckablage gelegt«, sagte sie mit vorwurfsvoller Miene. »Ich habe diesen Platz nämlich reserviert!«
    Paulus sah sich verwirrt in dem Wagen um. Offenbar war in Bremen eine Reisegruppe zugestiegen, denn fast alle Plätze waren mit fröhlich schwatzenden Frauen mittleren Alters gefüllt.
    »Entschuldigen Sie«, murmelte er, zwängte sich an ihr vorbei auf den Gang, nahm seine Tasche aus der Gepäckablage, kontrollierte, ob das Buch immer noch darin war, und suchte sich dann einen ruhigeren Platz in einem Abteil.
    Als er endlich Köln erreichte, war es kurz vor zehn. Es versprach, ein sonniger Tag zu werden, und auf der Domplatte, die direkt neben dem Hauptbahnhof lag, tummelte sich bereits eine große Schar von Touristen.
    Paulus betrachtete einen Moment die beeindruckende Fassade der beiden gewaltigen Türme und das filigrane Gewirr aus aufstrebenden Streben, Stützen und Pfeilern, das dem Gebäude eine fast unwirkliche Leichtigkeit verlieh. Der Dom hatte seine beiden Türme und einen Teilder prachtvollen Fassade erst im 19. Jahrhundert erhalten, doch die Pläne dafür stammten aus dem Mittelalter. Die Baumeister jener Zeit hatten es geschafft, aus den vorhandenen Materialien und mit vergleichsweise primitiven Techniken Bauwerke zu errichten, deren Eleganz nach Paulus’ Ansicht in der Moderne nicht einmal mehr annähernd erreicht worden war.
    Aus dem Inneren der Kathedrale erklang Orgelmusik. Ein Schild informierte die Touristen in vier Sprachen, dass gerade ein Gottesdienst stattfand und man von Besichtigungen so lange absehen möge. Paulus umrundete das Bauwerk, setzte sich in der Nähe des Römisch-Germanischen Museums in ein Straßencafé und frühstückte erst einmal.
    Wenn man sich die beiden Türme am fernen Ende wegdachte, sah der Dom aus dieser Perspektive in etwa so aus, wie er im Mittelalter gewesen war. Nur der Südturm war zu Lebzeiten Hermo von Lomersheims halb fertiggestellt gewesen, doch das Hauptschiff hatte damals bereits alle Gebäude Kölns bei weitem überragt. Es musste für die Menschen jener Zeit ein überwältigender Anblick gewesen sein.
    Er beobachtete das bunte Treiben der Touristen auf der Domplatte, die sich immer mehr füllte. Sie kamen aus aller Herren Länder hierher, um dieses Zeugnis mittelalterlicher Gottesfürchtigkeit zu bestaunen. Es stammte aus einer Zeit, in der Himmel und Hölle noch keine abstrakten Begriffe gewesen waren, mit denen man höchstens Kinder erschrecken konnte. Die meisten Menschen hatten das Leben nach dem Tod als eine selbstverständliche Tatsache hingenommen und ihre Handlungen im Diesseits darauf ausgerichtet. Das hatte der Kirche eine ungeheure Macht verliehen.
    Paulus vermutete, dass die meisten Atheisten jener Zeit in den hohen Kirchenämtern zu finden gewesen waren. Sie hatten den Glauben ganz bewusst als ein machtpolitisches Instrument eingesetzt. Wenn sie überhaupt an Gott geglaubt hatten, dann musste ihnen zumindest klar gewesen sein, dass sie Sein Wort ziemlich frei zu ihrem eigenen Vorteil interpretierten. Konsequenzen im Jenseits hatten sie entweder für unwahrscheinlich gehalten oder verdrängt. Anders war

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