Die achte Offenbarung
senkte. Sie war eingeschlafen.
Vorsichtig löste er sich von ihr, löschte das Licht und legte sich neben sie. Es dauerte lange, bis auch ihn der Schlaf übermannte.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Er hatte düstere Träume gehabt von dunklen Wolken, die sich über die Welt legten, während es immer kälter wurde und schwarzes Eis langsam über Straßen und Häuser kroch wie ein alles verzehrender Schatten.
Er tastete neben sich, doch Mele war verschwunden. Halb erleichtert, halb enttäuscht zog er sich aus und kuschelte sich unter die Bettdecke.
22.
Heidelberg, Mittwoch 04:40 Uhr
Dirk lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit. Bilder eines seltsamen Traums zogen durch sein noch im Halbschlaf befindliches Gehirn.
Im Traum war er durch Köln gewandert. Es war heller Tag, doch weder Menschen noch Autos waren auf den Straßen zu sehen, nicht einmal Vögel flatterten am Himmel. Er wusste, dass Menschen da waren – er konnte ihre Blicke hinter zugezogenen Vorhängen spüren –, doch niemand zeigte sich. Sie mieden ihn.
»Mele?«, rief er, zuerst leise, fast flüsternd, dann immer lauter. »Mele?« Sein Schrei hallte von den Betonfassaden zurück.
Plötzlich hörte er ein leises Kichern hinter sich. Er fuhr herum. Dort stand eine junge Frau, die er nur allzu gut kannte. Sie ähnelte Mele – dieselben Rehaugen, dieselbe etwas zu markante Nase, dieselbe schlanke Figur –, und doch war sie es nicht. Ihre Haut war unnatürlich hell, ihr Haar kupferfarben, die Augen waren smaragdgrün. Er war ihr noch nie begegnet, doch er wusste, wer sie war: Alba Frey, die Hauptperson in dem Roman, an dem er seit Jahren schrieb, Arbeitstitel Happy End . Sie war eine geistesgestörte Mörderin, die versuchte, Menschen im glücklichsten Augenblick ihres Lebens umzubringen, weil sie glaubte, damit diesen Moment ihres Glücks für die Ewigkeit zu bewahren.
Dirk empfand keine Angst. Er wusste in diesem Moment, dass er träumte. Außerdem hätte er von ihr nichts zu befürchten gehabt – er war vom glücklichsten Momentseines Lebens so weit entfernt wie Köln-Nippes von Sydney.
»Ich träume«, sagte Dirk.
»Tun wir das nicht alle?«, antwortete sie.
»Was willst du?«
»Ich will dich warnen.«
»Wovor?«
»Das Buch. Es ist gefährlich.«
»Erzähl mir was Neues.«
»Mele«, sagte Alba Frey mit einem traurigen Lächeln.
Dann wachte Dirk auf.
Er wälzte sich nervös hin und her, unfähig, wieder einzuschlafen. Was hatte der Traum zu bedeuten? Was wollte ihm sein Unterbewusstsein mitteilen?
Er hörte nebenan Türklappern. Er sprang auf und sah durch den Spion. Wie eine Diebin schlich Mele aus Paulus’ Zimmer über den Flur. Ihr Haar war zerzaust, das Kleid, das Paulus ihr heute gekauft hatte, zerknittert.
Sie hatte es also getan. Nachdem sie die Arbeit am Manuskript beendet hatten, war sie noch einmal zu Paulus zurückgeschlichen. Sie hatte mit ihm geschlafen. Sie mussten sich Mühe gegeben haben, leise zu sein, damit er nichts mitbekam.
Ungebeten drängten sich Bilder in seinen Kopf: Mele und Paulus nackt, innig einander umschlungen, ihre Münder gierig aufeinandergepresst, seine Hand …
Dirk versuchte, die Gedanken zu verdrängen. Was hatte er erwartet? Sie war Mele und Paulus bloß ein Mann.
Trotzdem tat es weh. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie mit Paulus ins Bett gegangen war. Es war vor allem diese Heimlichtuerei. Er hatte den beiden das Leben gerettet, doch er war nicht Teil des Teams. Er würde es nie sein.
Das Buch, es ist gefährlich. Mele. Die Wörter aus seinem Traum schrillten wie eine Alarmanlage in seinem Kopf. Er presste die Hände an die Ohren, als könne er seine innere Stimme dadurch dämpfen.
23.
Heidelberg, Mittwoch 09:06 Uhr
»Guten Morgen«, sagte Paulus, als er Dirk um kurz nach neun im Frühstücksraum antraf.
Der Student blickte kurz von seinem Müsli auf. Er hatte Ränder unter den Augen. »Morgen«, murmelte er mit vollem Mund.
Paulus legte seine Schlüsselkarte auf den Tisch und holte sich eine Schale frischen Obstsalat mit Joghurt vom Buffet. Er schenkte sich einen Kaffee ein, der erfreulicherweise recht stark war. »Gut geschlafen?«, fragte er.
»Geht so«, meinte Dirk.
»Ich hab auch noch lange wach gelegen«, sagte Paulus. »Dieses verdammte Manuskript macht mich noch ganz kirre!«
»Ja.«
Sie aßen schweigend.
»Hast du Mele schon gesehen?«, fragte Paulus nach einer Weile.
»Nein.«
Paulus zuckte mit den Schultern und holte sich eine Portion Rührei mit
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