Die achte Offenbarung
fünfte Offenbarung, und wieder befiel mich die bange Sorge um jene, die in solch schrecklichen Tagen ihr Dasein fristen müssen. Doch kannte ich noch nicht die nächsten Offenbarungen, und die Frevel gegen Gott, die der Engel mir nannte, waren noch schlimmer.
Nachdenklich betrachtete Paulus das Manuskript. Sie hatten erst etwas mehr als die Hälfte des Textes übersetzt, doch die Prophezeiungen waren bereits in der Epoche angekommen, in der er die Entstehung des Textes vermutete. Dass weitere Prophezeiungen folgten, darauf deuteten die astrologischen Symbole hin, die auch auf den folgenden Seiten hin und wieder auftauchten. Bald also mussten die Vorhersagen in der Zukunft des Autors angesiedelt sein. Dann würde sich zeigen, dass es sich um ein Werk der Fantasie handelte. Aber würden sie auch Hinweise darauf finden, wer es geschrieben hatte und warum es ihre Verfolger so dringend haben wollten?
Paulus war müde, er fühlte sich aber viel zu aufgekratzt, um schlafen zu gehen. Dennoch widerstand er der Versuchung, sich allein an die weitere Entschlüsselung zu machen. Sie hatten sich zuletzt die Arbeit recht effektiv aufgeteilt, indem Paulus den Text mit Hilfe des Syllabus Errorum in den Zwischencode übersetzt und Mele und Dirk dann den zweiten Entzifferungsschritt vorgenommen hatten. Ohne die Hilfe der beiden würde es deutlich langsamer vorangehen.
Er stand auf und streckte sich, als es an der Tür klopfte. Überrascht öffnete er.
Es war Mele. Sie hatte gerötete Augen. War es die Müdigkeit, oder hatte sie geweint?
»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie. »Darf ich reinkommen?«
»Ja, okay. Ich bin auch irgendwie ziemlich aufgekratzt.«
Ohne zu fragen, ging Mele an die Minibar und holte einen Wodka heraus. Sie trank einen Schluck aus der winzigen Flasche und hielt sie Paulus hin. »Hier, ist gut für die Nerven.«
»Nein danke!« Paulus machte sich nicht allzu viel ausAlkohol. Der Rotwein gestern Abend in der Pizzeria hatte ihm fürs Erste gereicht.
Mele zuckte mit den Schultern und trank den Rest des Wodkas aus. Sie räumte die Unterlagen beiseite und streckte sich auf dem Bett aus. Sie sagte nichts, starrte nur an die Zimmerdecke, als könne sie dort eine Erklärung für all die merkwürdigen Ereignisse der letzten Tage finden.
Paulus wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Meles Anwesenheit machte ihn nervös. Er wäre gern ins Bett gegangen, um seine Kräfte zu schonen, doch seine Müdigkeit war einer inneren Anspannung gewichen.
Er strich mit der Hand über das Manuskript. Es war wie eine Granate in sein beschauliches Dasein eingeschlagen. Verfolgt von skrupellosen bewaffneten Männern, saß er nun hier in diesem Hotelzimmer, während es sich eine hübsche Studentin auf seinem Bett gemütlich machte. Seltsamerweise fühlte er sich lebendig wie schon lange nicht mehr. Ihm wurde auf einmal bewusst, wie langweilig sein Leben bisher gewesen war.
Ihm fiel ein, dass Lieberman immer noch nicht zurückgerufen hatte. Jetzt war es in den Staaten Nachmittag oder früher Abend.
Er wählte die Nummer des Amerikaners, erreichte jedoch wieder nur den Anrufbeantworter. Er sprach erneut eine kurze Nachricht auf und bat Lieberman, zurückzurufen, auch wenn es in Europa Nacht sein sollte.
Als er auflegte, merkte er, dass Mele ihn ansah. Ihre Augen glänzten. »Komm bitte her«, sagte sie.
Zögernd setzte er sich neben sie auf das Bett.
Mele griff nach seinem Arm. Er leistete halbherzigen Widerstand, ließ es dann aber doch zu, dass sie ihre Arme um seinen Nacken legte und ihn zu sich herabzog. »Haltmich bitte fest«, flüsterte sie. Ihre hellen, großen Augen füllten sich mit Tränen.
Er legte seine Arme um sie, und sie presste sich an ihn. Ein Zittern durchlief ihren Körper, und er spürte, wie ihre Tränen sein neues Sweatshirt durchtränkten. Er küsste sie sanft auf die Stirn. »Schon gut«, raunte er. »Mach dir keine Sorgen. Diese Mistkerle finden uns nicht.«
Mele antwortete nicht. Sie schmiegte sich noch enger an ihn. Das Zittern ließ nach. Er strich sanft durch ihr kurzes Haar, halb, um sie zu beruhigen, halb aus Zärtlichkeit. Er wusste selbst nicht so genau, was er für Mele empfand, aber um keinen Preis der Welt wollte er sie jetzt loslassen.
So lagen sie lange, ohne sich zu bewegen. Paulus’ Arm begann zu schmerzen, doch er wagte es nicht, ihn in eine andere Lage zu bringen, aus Angst, Mele zu verschrecken.
Irgendwann merkte er, dass sich ihre Brust regelmäßig hob und
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