Die achte Offenbarung
darunter leiden. Erst dann sollen die Menschen von deinem Wissen erfahren, wenn diese Dinge bereits geschehen sind.
Jetzt, wo ich dieses niederschreibe und hinter den Worten des heiligen Johannes verberge, verstehe ich Zweck und Weisheit. Denn du, der du dieses liest, wirst wissen, was geschehen ist, und du wirst die Wahrhaftigkeit der Worte des Engels erkennen. So wirst du der Barmherzigkeit und Größe Gottes gewahr werden. Und es wird in deinen Händen liegen, ob das Ende der Zeiten kommt, noch während du auf Erden wandelst, oder ob Gottes Gnade den Menschen Frieden schenkt. Denn Gott der Herr hat seinen Sohn geschickt, um uns zu erretten, wir aber haben seine Worte missachtet. Und so treffe uns die gerechte Strafe, wenn wir vor ihn treten. Um aber der Sünde Einhalt zu gebieten, müssen wir sie ausrotten wie das Unkraut mit Stumpf und Stiele.
Paulus gähnte und streckte sich. Der kurze Text hatte sie schon wieder mehr als zwei Stunden gekostet. So langsam hatte er keine Lust mehr auf die mühselige Tüftelei. Außerdem waren ihm in der letzten halben Stunde immer häufiger Fehler unterlaufen. Immerhin schien der letzte Absatz die Motive des Autors deutlich zu machen.
»So langsam wird mir klar, was wir hier vor uns haben«, sagte er.
Mele, die in den letzten zweieinhalb Stunden kein Wort gesprochen hatte, sah ihn an. Erst jetzt fiel ihm auf, wie müde und bedrückt sie wirkte. »Was meinst du damit?«
»Offensichtlich ist der Text religiös motiviert. Der Autor hat sich gegen die Säkularisierung gewandt, durch die die Kirche im 19. Jahrhundert immer mehr an Einfluss verlor. Ich verstehe jetzt, glaube ich, was er sich dabeigedacht hat. Indem er den Text einem mittelalterlichen Mönch zuschrieb und tatsächliche Ereignisse angeblich vorhersagte, machte er aus dem Manuskript eine Prophezeiung, die auf seine Zeitgenossen sehr eindrucksvoll gewirkt haben muss. Das verleiht dem Buch eine enorme Autorität. Er hat vielleicht gehofft, dass er damit viele Menschen beeindrucken und eine religiös-fundamentalistische Gegenbewegung zum Liberalismus aufbauen könnte. Er droht denjenigen, die sich von der Kirche abwenden, nicht weniger als den Weltuntergang an.«
»Aber warum hat er den Text dann verschlüsselt?«
»Das erklärt er doch selbst. Wenn der Text nicht verschlüsselt gewesen wäre, dann hätte man annehmen müssen, dass seine prophetische Kraft schon viel früher erkannt worden wäre. Der Lauf der Geschichte hätte dann eigentlich verändert werden müssen. Also hätte niemand dem Autor geglaubt, dass das Manuskript tatsächlich Jahrhunderte alt ist. Erst die Verschlüsselung macht die Sache glaubwürdig.«
Er deutete auf die Übersetzung des letzten Absatzes. »So langsam nähern wir uns dem Kern der Sache. Er fordert hier, dass die Sünde mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss. Das liest sich für mich wie eine Aufforderung zu einem religiösen Staatsstreich.«
»Du meinst, das Manuskript ist Kern einer Verschwörung?«
»Das ergibt einen Sinn, oder? Nehmen wir mal an, der Text ist in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts entstanden. Es war die Zeit des Kulturkampfes. Otto von Bismarck, der erste Kanzler des neu gegründeten Deutschen Reichs, war in eine heftige Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche verwickelt, die zu jener Zeit von Papst Pius IX. geführt wurde – genau jenem Pius, dessenSyllabus Errorum der Schlüssel zu dieser Textpassage ist. Es muss damals zahlreiche einflussreiche Leute gegeben haben, denen Bismarcks Politik ein Dorn im Auge war – Provinzfürsten zum Beispiel, denen er ihre regionale Macht entzogen hatte. Nehmen wir mal an, einer von denen hat das Manuskript geschrieben, um die anderen hinter sich zu bringen und einen Aufstand gegen Bismarck anzuzetteln.«
Paulus kam in den Sinn, dass dieser Provinzfürst ein direkter Vorfahr von ihm gewesen sein könnte. Er nahm sich vor, seine Familiengeschichte genauer zu studieren, sobald er die Zeit dazu hatte.
»Er könnte so etwas Ähnliches vorgehabt haben wie die islamische Revolution des Ajatollahs Khomeini, der 1979 den Schah von Persien stürzte und den Iran in einen fundamental-religiösen Staat verwandelte«, fuhr er fort. »Wenn der Verfasser unseres Textes Erfolg gehabt hätte, dann würden bei uns heute wahrscheinlich ganz andere Sitten herrschen.«
»Wer weiß, vielleicht hätte er damit zwei Weltkriege verhindert«, sagte Mele.
Paulus schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Ein streng katholisches
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