Die achte Offenbarung
es etwas Wichtiges zu besprechen gab. Während sich die Chorbrüder ausschließlich geistiger Arbeit widmeten und die Mauern der Klausur, des inneren Klosterbereichs, nur selten verließen, mussten sich die Laienbrüder um die Klosterwirtschaft kümmern – um die Felder, Weinberge, das Vieh und den Handel mit den Bauern der Umgebung. Sie hielten das Kloster mit seiner ausgeklügelten Wasserversorgung instand und sorgten dafür, dass die Chorbrüder ausreichend zu essen hatten.
Das war harte körperliche Arbeit. Dennoch wäre Paulus lieber ein Laienbruder als ein Chorbruder gewesen, wenn er vor der Wahl gestanden hätte. Die Chorbrüder lebten in einer Welt der Stille, denn sie durften nur an wenigen Orten und zu festgelegten Zeiten sprechen. Ihr Tagesablauf war von Gebeten, Bibellesungen und Gottesdiensten geprägt, die auch nachts stattfanden. Komfort gab es hinter den Mauern der Klausur so gut wie keinen.
Die Laienbrüder hatten zwar praktisch keine Rechte, aber sie durften wenigstens miteinander reden und bekamen aufgrund ihrer körperlichen Arbeit meist ausreichendzu essen. In der von Armut und Hunger geprägten Welt des Mittelalters hatten sie es vergleichsweise gut gehabt.
Paulus fühlte sich hier auf dem Hof wie auf dem Präsentierteller. Zwar war von dem Araber und seinen Komplizen nichts zu sehen, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht hier waren.
Er kaufte für Mele und sich selbst Eintrittskarten für die Klausur. Sie schlossen sich einer geführten Gruppe an. In der Menschenansammlung waren sie besser vor neugierigen Blicken geschützt.
»Das Kloster Maulbronn, ursprünglich Mulenbrunn, wurde 1147 gegründet«, leierte der Führer in gelangweiltmonotoner Stimme herunter. »Das Gelände war eine Schenkung des Bischofs von Speyer an die Zisterzienser. 1178 wurde die Klosterkirche geweiht, das älteste noch erhaltene Gebäude und die erste Station dieser Führung.«
Paulus und Mele folgten der Gruppe durch die aus gelbem Sandstein erbauten Gebäude. Man konnte die Zeitepoche, in der sie entstanden waren, an den beiden unterschiedlichen Baustilen erkennen, die hier aufeinandertrafen: Während die ersten Klostergebäude aus dem 12. Jahrhundert noch im romanischen Stil mit seinen runden Fenstern und dicken Mauern erbaut worden waren, wiesen die im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts hinzugekommenen Gebäudeteile die schlanken, spitz zulaufenden und reich ornamentierten Formen der Gotik auf.
Die Kühle im Inneren war wohltuend. Obwohl das Kloster schon im 16. Jahrhundert säkularisiert und in eine Schule umgewandelt worden war, strahlte es immer noch eine strenge Würde aus. Lediglich die hin und wieder in den Sandstein geritzten Namen früherer Schüler, die mit Jahreszahlen des 18. und 19. Jahrhunderts versehen waren, wiesen darauf hin, dass es hier nicht immer ernst zugegangenwar. Heute wurde das Kloster als evangelisches Internat genutzt, und in den ehemaligen Schlafsälen und Studierstuben der Mönche quälten sich Gymnasiasten mit Latein und Altgriechisch.
Immer wieder sah sich Paulus verstohlen nach etwaigen Verfolgern um, entdeckte jedoch niemanden.
Sie erreichten den Kreuzgang, der einen rechteckigen Innenhof umrundete. Das Glas der hohen gotischen Fenster fehlte. In einem runden Erker erhob sich ein großer Brunnen mit drei terrassenförmig übereinander angeordneten Schalen. Ihr Führer erklärte, dass der untere Teil aus der Entstehungszeit der Brunnenkapelle im 14. Jahrhundert stammte, während die oberen Schalen erst später hinzugefügt worden waren.
Paulus betrachtete den Brunnen genauer. Die kreisrunde untere Schale hatte einen Durchmesser von etwa fünf Metern. Dies musste der Napf sein, der in dem Manuskript erwähnt wurde. Doch nirgends waren hier Zahlen eingraviert.
Ihr Führer wies auf die Bemalung der Decke über dem Brunnen hin, auf der ein Maultier neben einer sprudelnden Quelle zu sehen war. Dies illustriere die Legende der Klostergründung, erklärte er. Demnach hätten die Mönche auf der Suche nach einem geeigneten Standort ein Maultier mit den Klosterschätzen beladen und es laufen gelassen. Es sei an einer Stelle stehengeblieben und habe mit den Hufen gescharrt, woraufhin eine Quelle aus dem Boden hervorgesprudelt sei. Angeblich markierte der Brunnen genau diesen Ort.
»Entschuldigung, ich hätte da eine Frage«, meldete sich Mele.
Der junge Führer warf ihr einen interessierten Blick zu. Offenbar freute er sich, dass zur Abwechslung auch maljemand unter vierzig an
Weitere Kostenlose Bücher