Die Achte Suende
enttäuscht; jeder eine gescheiterte Karriere und jeder bereit, sich an der Menschheit mit
seinen
Mitteln zu rächen.
Ein eisernes Gesetz – und auf Burg Layenfels herrschten drakonische Gesetze – verpflichtete alle Flagrantes zu absoluter Geheimhaltung der eigenen Vergangenheit.
Von Murath, genannt «das Gehirn«, wusste man, dass er, aus Enttäuschung über die Verweigerung des Nobelpreises, seine Universitätskarriere an den Nagel gehängt, seine Frau mit unbekanntem Ziel verlassen und Zuflucht bei einer Bruderschaft gesucht hatte. Das jedenfalls war in allen Zeitungen nachzulesen, und außerdem war von einer revolutionären Entdeckung auf dem Gebiet der Genforschung die Rede, einer Entdeckung, welche jede Vorstellungskraft überstieg und die deshalb vom Nobelpreis-Komitee ignoriert wurde.
Vom Wesen her unterschiedlich wie Wasser und Feuer, hatten sich Murath und Anicet trotzdem angefreundet. Ihr gemeinsamer Wissensdurst hatte sie zusammengeschweißt wie zwei glühende Eisen – wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Und so wirkte Anicet unerwartet beherrscht, beinahe versöhnlich, als er Muraths Frage beantwortete.
»Ja, ich bin ganz sicher, dass es sich um das Grabtuch des Jesus von Nazareth handelt, um keine Fälschung, sondern um das Original. Schließlich habe ich, bevor ich das Projekt in Angriff nahm, den Weg des Leintuchs mit allen mir zur Vefügung stehenden Mitteln zurückverfolgt. Und seien Sie versichert, Professor, als Kurienkardinal und Leiter des Vatikanischen Geheimarchivs konnte ich damals auf Mittel und Möglichkeiten zurückgreifen, von denen andere nur träumen können.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, bemerkte Van de Beek, der Chemiker, ironisch. Er war der Abgeklärteste von allen, und seine scharfe Zunge war gefürchtet.
Anicet überging Van de Beeks Einwurf und fuhr fort: »Als in den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Molekulargenetik erste spektakuläre Triumphe feierte, erreichte die Römische Kurie ein Schreiben des Harvard-Professors John Tyson, in dem er darauf aufmerksam machte, dass seine Wissenschaft – er war im Übrigen bis dato ein sehr gläubiger Mensch – die Lehre der Kirche in arge Bedrängnis bringen könnte.
Dabei erwähnte er das Turiner Grabtuch und entwarf ein Schreckensszenario für die Zukunft der Kirche. Die Einzelheiten brauche ich Ihnen nicht weiter zu erläutern. Am besten wäre es, meinte der gläubige Harvard-Professor, wenn sich die bedeutsamste Reliquie der Christenheit als Fälschung herausstellen würde.«
»Ziemlich absurd«, meinte Willenborg, der Genealoge. »Aber ich kann mir schon denken, warum.«
»Ich auch«, bekräftigte Ulf Gruna, der Hämatologe. »Die Sache ist ganz einfach.«
»Das ist uns allen inzwischen hinreichend bekannt«, fiel Anicet dem Hämatologen ins Wort.
Dulazek nickte.
Aber Ulf Gruna, der Blut als das Leben schlechthin zu bezeichnen pflegte, ließ nicht locker und sagte an Anicet gewandt: »Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass Kardinal Gonzaga uns nicht betrogen hat?«
Da polterte Anicet los: »Ich weiß nicht, was Sie mit Ihren Anfeindungen bezwecken wollen. Bisher war ich der Meinung, wir zögen alle an einem Strang. Vielleicht rufen Sie sich einmal in Erinnerung, dass Gonzaga der Kardinalstaatssekretär ist!«
»Eben! Als Kardinalstaatssekretär standen ihm doch alle Möglichkeiten offen, eine weitere Fälschung anfertigen zu lassen.«
Anicet grinste verächtlich: »Der Herr wird sich hüten, uns an der Nase herumzuführen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das für seine Karriere bedeuten würde. Allein die Tatsache, dass er uns das Turiner Leintuch gleichsam frei Haus lieferte, zeigt, wie absurd Ihre Einwände sind. Im Übrigen kenne ich das Turiner Grabtuch wie mein eigenes Bettlaken, seit es im Vatikanischen Geheimarchiv aufbewahrt wird …«
»Sie meinen«, unterbrach Willenborg Anicets Redefluss, »Sie kennen das Objekt, das Sie für das Original halten, wie Ihr Bettlaken. Ob es wirklich das Original ist und nicht die Kopie, die der Vatikan, wenn ich mich recht erinnere, in Auftrag gegeben hat, dafür haben Sie zumindest vorläufig keinen Beweis.«
Anicet fühlte alle Augen auf sich gerichtet. Ein Zucken um die Mundwinkel verriet seine Unsicherheit. Er schluckte, aber er antwortete nicht.
»Sicher«, entgegnete Murath, »gibt es in den Magazinen unter St. Peter, wo die unglaublichsten Dinge aufbewahrt werden, noch weitere Mumien aus der Zeitenwende, aus
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