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Die Achte Suende

Die Achte Suende

Titel: Die Achte Suende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Frage stellen konnte, verschwand der Kopf einer älteren Frau hinter der Gardine.
    Das alles kam Anicet etwas seltsam vor, aber um an sein Ziel zu gelangen, versuchte er es erneut und läutete Sturm.
    Als der knorrige Schädel zum zweiten Mal in der Fensteröffnung erschien, rief Anicet nach oben: »Meister Leonardo, auf ein Wort. Ich würde Sie gerne sprechen. Es geht um Ihre Kunst.«
    Im nächsten Augenblick sauste, Anicet wusste nicht, wie ihm geschah, ein eisernes Geschoss von oben auf ihn zu, vor dem er sich nur durch einen Sprung zur Seite retten konnte. Von einer Schnur festgehalten, baumelte ein Schlüssel, gut eine Handspanne groß, in der Luft. Entgegen dem ersten Eindruck erkannte Anicet den Vorgang als Einladung, die Haustür aufzusperren und einzutreten. Kaum hatte er die Tür geöffnet, wurde ihm der Schlüssel aus der Hand gerissen und sauste mit der gleichen Geschwindigkeit wieder nach oben.
    Über dem Hausflur dehnte sich ein düsteres Gewölbe. Im hinteren Teil des kahlen Raumes, der von einer Wandlampe nur spärlich beleuchtet war, führte eine Treppe, steil wie eine Hühnerleiter, ins obere Stockwerk. Als Anicet den Fuß auf die erste Schwelle setzte, begann ein Ächzen und Knarren, das mit jeder weiteren Stufe lauter wurde.
    Oben angelangt, trat ihm ein ausgemergelter Greis in roten Strumpfhosen und einem mittelalterlichen Wams entgegen, und in diesem Augenblick wusste Anicet, warum er geglaubt hatte, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Ernest de Coninck sah aus wie Leonardo da Vinci. Beinahe war er geneigt zu glauben, er wäre es wirklich.
    »Ich grüße Sie, Messer Leonardo«, sagte Anicet ohne einen Tonfall, der darauf schließen ließ, dass er sich über den Alten lustig machte. »Mein Name ist Anicet.«
    »Ihr seid doch ein Pfaffe, macht mir nichts vor!«, rief Leonardo aufgebracht. »Ich hasse euch alle.«
    »Ich bin kein Pfaffe, das können Sie mir glauben!«, entgegnete Anicet heftig. Er trug unter dem Trenchcoat einen grauen Anzug und eine grün gemusterte Krawatte und wunderte sich, wie der Alte zu seiner Aussage kam. Zwar tragen Männer geistlichen Standes eine charakteristische Physiognomie zur Schau – dazu gehören leicht gerötete Wangen, ein teigiges Gesicht und ein künstlich beseelter Blick –, aber Anicet glaubte nach Jahren langer Abstinenz diese Attitüden längst abgelegt zu haben. Offensichtlich war das ein Irrtum.
    Um sich nicht weiter zu verstricken, sagte Anicet: »Also gut, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Ich war Kurienkardinal, aber das ist lange her.«
    »Sag ich doch. Ich habe einen Blick dafür«, nuschelte Leonardo beinahe unverständlich und fügte knapp hinzu: »Was wollt Ihr?«
    »Es geht um das Grabtuch des Herrn Jesus von Nazareth.«
    »Kenne ich nicht.«
    »Messer Leonardo! Machen wir uns nichts vor. Wir wissen doch beide, wovon wir reden.«
    Der Alte, der bisher aus sicherer Entfernung mit ihm gesprochen hatte, trat näher.
    Anicet sah, wie sein Bart zitterte und seine tiefliegenden Augen funkelten. »Ihr wisst, wer ich bin?«, fragte er mit gepresster Stimme.
    »Natürlich. Sie sind Leonardo, das Genie.«
    Der Alte setzte ein verschämtes Grinsen auf und strich sich über den wallenden Bart. Im Bruchteil einer Sekunde änderte er seinen Gesichtsausdruck und fragte knapp: »Wer seid Ihr? Wer schickt Euch?«
    »Wie ich schon sagte, war ich Mitglied der Kurie, ja sogar
papabile
, bevor ich den Intrigen im Vatikan zum Opfer fiel. Da hängte ich von heute auf morgen meine rote Schärpe an den Nagel und gründete die Bruderschaft der Fideles Fidei Flagrantes, eine Gemeinschaft vom Leben enttäuschter Genies, jeder eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Heute sind wir eine Hundertschaft kluger Männer und leben auf Burg Layenfels hoch über dem Rhein.«
    Leonardo blickte interessiert: »Und was wollt Ihr erreichen?«
    »Die Welt verbessern.«
    »Drei Wörter mit hochtrabendem Inhalt.«
    »Allerdings. Uns geht es darum, die Dummheit auf diesem Planeten auszurotten.«
    Leonardo kam noch näher, und Anicet wich einen Schritt zurück. Er sah, wie es im Kopf des bärtigen Mannes arbeitete: »Und welche Rolle spielt dabei das Grabtuch des Herrn Jesus?«
    »Eine ganz entscheidende Rolle. Allerdings nur das Original!«
    »Was soll das heißen?« Leonardo zeigte plötzlich Anzeichen von Nervosität. Mit Daumen und Zeigefinger zwirbelte er seinen Bart. »Was meint Ihr damit?«
    »Sie haben im Auftrag der Kurie eine Kopie des Turiner Grabtuches geschaffen.«
    »Stimmt.

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