Die Achte Suende
Und?«
»Leider ist die Kopie so gut, dass man sie vom Original nicht unterscheiden kann.«
»Wem sagen Sie das! Aber was führt Euch hierher?«
»Genau das. Ich muss wissen, wie sich die Kopie vom Original unterscheidet.«
Leonardo kicherte. »Das werde ich Euch doch nicht auf die Nase binden.«
Anicet musterte den Alten abschätzend. Dann sagte er: »Ich bewundere Ihre Kunst, Messer Leonardo. Bisher ist es keinem Menschen gelungen, eine perfekte Kopie des Grabtuches herzustellen. Sie sind der Erste, und sicher werden Sie auch der Einzige bleiben.«
Das Kompliment schmeichelte dem alten Mann. »Wenigstens einer, der meine Arbeit zu schätzen weiß«, brummelte er vor sich hin.
»Sie –«, Anicet zögerte. »Sie sind Autodidakt?«, fragte er, um das Gespräch in Gang zu halten.
»Autodidakt?« Leonardo lachte hämisch. »Glauben Sie ernsthaft, dass man das alles aus eigenem Antrieb lernen kann?« Dabei machte er eine ausladende Armbewegung und zeigte auf die Gemälde und Skulpturen, die in dem Atelier, welches das ganze erste Stockwerk einnahm, herumstanden.
Anicet sah sich flüchtig um. Die wuchtigen Deckenbalken wirkten bedrückend. Im Schein der spärlichen Beleuchtung waren an den Wänden das unvollendete Gemälde des heiligen Hieronymus aus den Vatikanischen Museen, die gleichfalls unvollendete
Anbetung der Könige
aus den Uffizien, die
Madonna in der Felsengrotte
aus der Londoner National Gallery und das
Bildnis eines Musikers
aus der Ambrosiana in Mailand zu erkennen. Dazwischen Tonmodelle verschiedener Skulpturen und Pläne sowie Zeichnungen von optischen und mechanischen Geräten. Außerdem Dutzende Wandzettel in Spiegelschrift. Alle ohne System in einem undurchschaubaren Chaos angeordnet.
»Nein«, nahm Leonardo seine Rede wieder auf, »mein Lehrmeister war kein Geringerer als Andrea del Verrocchio.« Er musste wohl Anicets skeptischen Blick erkannt haben, denn Leonardo fügte noch hinzu: »Ihr glaubt mir doch?«
»Warum sollte ich an Ihren Angaben zweifeln, Messer Leonardo«, erwiderte Anicet. Er konnte nicht ahnen, dass er sich mit dieser Lüge unerwartet Leonardos Vertrauen erschlichen hatte.
»Die Leute hier halten mich nämlich für einen Spinner«, fuhr der Alte fort, und dabei verzog er das Gesicht, als schmerzte ihn seine Aussage, »sie wollen nicht wahrhaben, dass ich Leonardo bin, der Mann aus dem Dorf Vinci bei Empoli, der am 2. Mai des Jahres 1519 nach der Zeitenwende auf Schloss Cloux bei Amboise die Augen schloss und in der Kirche St. Florentin begraben wurde. Ihr glaubt doch an Reinkarnation?«
»Ich bin weder ein Orphiker noch ein Pythagoreer, aber wenn ich Ihre Werke so betrachte, bin ich geneigt, meine Auffassung von der Transmigration der Seele zu ändern. Mir scheint, in Ihnen ist Leonardo da Vinci wiederauferstanden.«
Dem Alten gingen die Worte runter wie warmes Öl. »Man hält mich gemeinhin für einen Fälscher oder Kopisten, wenn ich bisweilen eines meiner Werke verkaufe. Dabei war ich noch nie in meinem Leben im Louvre, die Uffizien habe ich nicht einmal von außen gesehen, vom Vatikan in Rom ganz zu schweigen. Kopien oder Fälschungen! Dass ich nicht lache! Wie kann ich mich selbst kopieren oder fälschen? Von der«, ereiferte sich Leonardo und zeigte auf das Madonnenbildnis in der Felsengrotte, »von der gibt es mittlerweile schon drei Versionen, die erste hängt in London in der National Gallery, die zweite in Paris im Louvre, gestern habe ich die dritte vollendet. Bin ich deshalb ein Fälscher?« »Sicher nicht, Messer Leonardo!«
Abermals trat der Alte einen Schritt näher und legte die Hand an die Wange, als wollte er dem Fremden ein Geheimnis anvertrauen: »Die Mehrzahl der Menschen ist dumm. Und am dümmsten sind die Schwellköpfe, die sich Doktoren und Professoren nennen. Sie glauben, Kunst beurteilen zu können, obwohl sie noch nie einen Malerpinsel in der Hand gehabt haben, von einem Modelliereisen ganz zu schweigen. Sie halten meine
Mona Lisa
für das bedeutsamste Kunstwerk der Welt. Dabei habe ich das Portrait von Frau Gioconda aus Florenz in drei Tagen zusammengeschustert, weil die Dame ein passendes Geburtstagsgeschenk für ihren Mann Francesco brauchte und den Termin übersehen hatte. Das bedeutsamste Kunstwerk der Welt! Dass ich nicht lache!«
»Mit Verlaub, Messer Leonardo, es ist ein großartiges Kunstwerk.«
»Na ja, es geht. Heute würde ich es besser machen. Obwohl …«
»Obwohl?«
»Wisst Ihr, in den letzten Jahren habe ich mehr und mehr
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