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Die Achte Suende

Die Achte Suende

Titel: Die Achte Suende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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erklärt. Damals am Hofe des Herzogs von Mailand hatte ich meine produktivste Zeit. Gleichzeitig musste ich aber auch die schlimmsten Anfeindungen der Kirche über mich ergehen lassen. Schließlich sah ich keinen anderen Ausweg, als meine Aufzeichnungen in Spiegelschrift zu verfassen, damit mir nicht jeder hergelaufene Dominikaner einen Strick daraus drehen konnte. Spiegel, müsst Ihr wissen, waren damals selten und kostbar, und Ordensleuten war es aus Gründen der Eitelkeit sogar verboten, sich dieses Teufelswerks zu bedienen. Aus nostalgischen Gründen, und weil es mir schwerfiel, mich umzugewöhnen, habe ich die Gepflogenheit bis heute beibehalten.«
    »Sie sprachen von Strahlung, welche die Ursache für die Abbildung auf dem Grabtuch gewesen sein könnte.«
    »Ganz recht. Heute bin ich sogar sicher, dass dies die einzige einleuchtende Erklärung ist. Zum einen haben chemische Analysen ergeben, dass es sich nicht um einen Farbauftrag handelt. Es wurden keine Spuren von Farbpigmenten gefunden. Andererseits wurden Versuche angestellt, bei denen Menschen in gleicher Haltung wie auf dem Turiner Tuch mit Bitumenverbindungen bestrichen und danach mit einem Leintuch bedeckt wurden. Das Ergebnis war eindeutig: Die Abdrücke waren verzerrt und wiesen nicht im Entferntesten eine Ähnlichkeit mit dem Vorbild auf. Betrachtet man jedoch das Original, so gewinnt man den Eindruck, als wäre das Abbild des Toten hingehaucht.«
    »Umso mehr bewundere ich Ihren Mut, sich an eine Kopie des Grabtuches heranzuwagen. Sie haben mich neugierig gemacht. Wollen Sie mir Ihr Geheimnis nicht wenigstens ansatzweise verraten?«
    Der alte Mann wiegte den Kopf hin und her, dass sich sein Bart unter den heftigen Bewegungen kräuselte. »Ich habe einen Vertrag unterschrieben, der mir außer der ewigen Verdammnis die Rückzahlung von einer halben Million Euro androht für den Fall, dass ich auch nur ein Sterbenswörtchen über diese Aktion verlauten lasse.«
    »So gesehen haben Sie den Vertrag längst schon gebrochen, Messer Leonardo. Aber Sie können mir wirklich vertrauen. Wenn ich morgen zurück nach Burg Layenfels reise, werde ich mich nicht mehr erinnern, jemals hier gewesen und Ihnen begegnet zu sein.«
    Einen Augenblick zögerte Leonardo, dann gab er Anicet einen Wink und sagte: »Folgt mir!«
    In das Mauerwerk eingelassen, führte eine weitere Treppe nach oben. Leonardo nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und zeigte dabei so viel Gelenkigkeit, dass Anicet Zweifel kamen, ob der Alte wirklich so alt war, wie er sich gab. Anicet hatte Mühe, ihm zu folgen.
    Oben angelangt, tat sich ein beinahe kahler Raum auf, ein nur mit dem Nötigsten eingerichtetes Laboratorium mit Glasschränken an den Wänden und einem Experimentiertisch vor den drei Fenstern zur Straße hin. Scheinwerfer an der Decke erinnerten an ein Fotostudio. Der Boden war weiß gefliest, ebenso die hohen Wände. Wie das Atelier im Stockwerk tiefer nahm das Laboratorium die ganze Etage ein.
    Am augenfälligsten war ein großer schwarzer Würfel, etwa zweieinhalb Meter breit und ebenso hoch, auf der rechten Seite des Raumes.
    Leonardo genoss Anicets Ratlosigkeit für ein paar Augenblicke mit sichtbarem Vergnügen. Er grinste überlegen. Schließlich begann er eher beiläufig: »Die Camera obscura habe ich schon vor fünfhundert Jahren erfunden. Vermutlich habt Ihr davon gehört. Sie ist ein ebenso einfaches wie verblüffendes Wunder der Natur. Dies hier ist allerdings ein etwas groß geratenes Exemplar, aber für meine Zwecke gerade recht. Ich will Euch etwas zeigen.«
    Er öffnete eine kaum erkennbare, schmale Tür an der Seite des Würfels und schob Anicet in das Innere. »Ihr braucht keine Furcht zu haben. Aber wenn Ihr wissen wollt, wie die Kopie des Turiner Grabtuches entstanden ist, dann müsst Ihr diese Prozedur über Euch ergehen lassen.«
    Kaum hatte Anicet die Camera obscura betreten, schloss Leonardo die Tür.
    Im Innern herrschte bedrückende Stille. Wie aus weiter Ferne hörte Anicet, dass Leonardo die Deckenscheinwerfer einschaltete. Aber er sah nichts.
    Leonardo indes entledigte sich seiner Kleider. Dann zog er aus der Vorderseite der Camera den Korken, der genau in der diagonalen Mitte angebracht war, heraus und stellte sich nackt und jämmerlich vor die gegenüberliegende weiße Wand. Mit dem rechten angewinkelten Arm verdeckte er seine Scham. Die linke Hand fasste sein rechtes Handgelenk. Beide Beine waren parallel und mumienhaft ausgerichtet.
    Minutenlang verharrte

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