Die Achte Suende
das Problem der Brand-und Blutflecken auf dem Original.«
»Ach was! Das juckte mich am allerwenigsten. Für die Brandflecken aus dem Jahre 1532, als das Grabtuch in der Schlosskapelle von Chambéry beinahe ein Opfer der Flammen geworden wäre, musste ein altes Kohlebügeleisen herhalten. Den Rest besorgten Natriumpolysulfide, welche das Leinen gelb bis braun verfärbten. Und was die Blutreste betraf, gab es nur
eine
Lösung: Taubenblut, das unter Zufuhr von Sauerstoff schneller altert als eine Eintagsfliege.«
Anicet dachte lange nach. Schließlich stellte er die Frage: »Messer Leonardo, könnte es nicht sein, dass das Turiner Original auf die gleiche Art und Weise entstanden ist?«
Der Alte verzog das Gesicht, und auf seiner Stirn bildete sich eine senkrechte Zornesfalte: »Hört zu«, begann er mit Nachdruck in der Stimme, »wenn es jemanden gibt, der die Echtheit des Turiner Grabtuches bestätigen kann, dann bin ich es. Und ich sage Euch, dieses Leinen hat vor annähernd zweitausend Jahren einen Mann eingehüllt, der übernatürliche Fähigkeiten besaß. Ob der Mann tot war, scheintot oder lebendig, ob er Gottes Sohn war oder ein hergelaufener Wanderprediger, wie es damals viele gab, das steht auf einem anderen Blatt. Das ist eine Frage des Glaubens. Mein Metier ist die Kunst, nicht der Glaube. Fest steht nur, das Leinen, welches mir als Vorlage diente, ist so echt wie meine
Mona Lisa
im Louvre. Dieser Jesus kannte keine Camera obscura. Die erfand ich erst eineinhalb Jahrtausend später. Und nur mithilfe dieser Erfindung ist es möglich, eine Kopie herzustellen, die jedem Vergleich standhält.«
»Verzeihen Sie meine Zweifel«, lenkte Anicet ein, »aber gerade die Frage der Echtheit war es, die mich hierhergeführt hat.«
Leonardo ging in dem Laboratorium unruhig auf und ab. Vergeblich versuchte Anicet zu ergründen, was in seinem Kopf vorging. Plötzlich schrillte die Hausglocke. Leonardo warf Anicet einen fragenden Blick zu.
»Sie erwarten Besuch?«, erkundigte sich Anicet vorsichtig.
Leonardo schüttelte den Kopf. »Kommt, ich bringe Euch hinaus. Es wäre gut für Euch, wenn man Euch hier nicht sieht!« Mit diesen Worten schob er den fremden Besucher zur Treppe und machte ein Handzeichen, sich zu beeilen.
Noch während sie die zwei Treppen nach unten stiegen, schrillte die Hausglocke erneut. Im Parterre angelangt, öffnete Leonardo eine schmale Holztür. Sie führte in einen Hinterhof. »Haltet Euch rechts«, raunte Leonardo Anicet zu, »dort trefft Ihr auf die schmale Feuergasse, die nicht weit von hier in die Luisenstraat mündet.«
Abermals schrillte die Glocke, nun deutlich ungeduldiger. »Kommt morgen wieder«, rief Leonardo leise, »ich habe Euch noch etwas Wichtiges zu sagen. Und benützt den Hintereingang!«
Dann fiel die Hoftür ins Schloss. Als er auf die Straße trat, bemerkte Anicet eine dunkle Limousine, die vorher dort noch nicht gestanden hatte. Das ungewöhnliche Autokennzeichen fiel ihm sofort ins Auge: CV-5. Ein Wagen der römischen Kurie.
Kapitel 26
Der Regen hatte aufgehört, als Anicet sich in Richtung Scheideufer bewegte. Auf dem Jordaenskaai brandete der Verkehr. Menschen, die mit ihren Mobiltelefonen telefonierten, kamen ihm entgegen. Auffallend viele orthodoxe Juden in schwarzer Kleidung und mit gedrehten Locken. Und Anicet hatte plötzlich Mühe, sich in der Gegenwart zurechtzufinden.
Ernest de Coninck, der sich Leonardo nannte, hatte ihn für kurze Zeit in eine andere Welt entführt. Und er wunderte sich, wie er diesem Mann in seinen Ausführungen blind und ohne jeden Einwand gefolgt war. Sein eigentliches Anliegen hatte er dabei völlig außer Acht gelassen. Gewiss, er hatte viel erfahren, aber zu wenige Fragen gestellt.
Die Hände in den Taschen seines Trenchcoats vergraben, schlenderte Anicet flussaufwärts. Gedankenverloren blickte er den Frachtkähnen hinterher, die tuckernd an ihm vorüberzogen. Am Ende des Plantin Kaai winkte er ein Taxi herbei.
Nach zwanzigminütiger Fahrt setzte ihn der schweigsame Fahrer, ein Indonesier mit weichem Milchgesicht, in der Karel Oomsstraat vor dem Hotel Firean ab. Das kleine, abseits vom Straßenlärm gelegene Hotel glänzte durch eine schmucke Jugendstilfassade und einen gusseisernen Baldachin über dem Eingang.
Inzwischen war es Abend geworden. Durch die Straßen pfiff ein zugiger Wind, und Anicet zog es vor, das Hotel nicht mehr zu verlassen. Im Zwischenstockwerk, links neben dem Eingang, befand sich ein kleines Restaurant
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